Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
Freundinnen sprachen von beiden Seiten lebhaft auf sie ein, um sie von den bevorstehenden Schrecknissen abzulenken. Annemarie hörte sie kaum. Sie ging wie in einem Traumzustand dahin.
»Annemie ... Vorsicht!« Margot packte sie am Arm.
»Um ein Haar wärst du unter das Auto gekommen!«
»Dann wäre mir wohler als augenblicklich.« Denn da tauchte gerade der rote Backsteinbau, das Schubertsche Lyzeum, vor ihnen auf.
»Behüte dirr Gott, Annemie. In die Pause um zwölf ich kommen hörren, wie es gehen dich.« Vera küßte sie zärtlich.
»Viel Glück, Annemie!«
»Du darfst mir kein Glück wünschen, Margot, sonst geht's bestimmt schief. Ach du gerechter Strohsack ... wär' ich doch erst wieder draußen.«
Eine atembeklemmende Stille herrschte in den Gängen, denn heute am Examenstag war für die anderen schulfrei. Hier war man nun den größten Teil seines Lebens, die ganze Schulzeit über, ein-und ausgegangen. Mal mit etwas gepreßtem Herzen, aber meistens quietschfidel und sorglos. Wanderte Nesthäkchen heute zum letzten Mal den gewohnten Weg? Oder würde es weiter noch Schulmädchen bleiben müssen?
Die Abiturientinnen waren bereits in der Oberprima versammelt. Alle mit farblosen Gesichtern und verängstigten Augen. Zehn an der Zahl. »Wie eine Schafherde beim Gewitter«, dachte Annemarie, und wunderte sich selbst, daß sie in diesen bangen Minuten so etwas denken konnte.
Marlene reichte Annemarie eine eiskalte Hand.
»In Mathematik falle ich glatt durch.«
»Ich in Latein, Marlene. Rege dich nicht so schrecklich auf. Hans sagt, je ruhiger man ist, umso besser stehen die Chancen.« Nesthäkchen redete der Freundin gut zu und zitterte dabei selbst an allen Gliedern.
Ilse Hermann, deren lange Blondzöpfe nicht mehr den Rücken entlanghingen, sondern zum Nest am Hinterkopf aufgesteckt waren, brabbelte in einem fort Zahlen und Namen vor sich hin. Marianne wappnete sich gegen die zu bestehenden Gefahren mittels eines Käsebrotes. Dabei behauptete sie, vor Aufregung gänzlich appetitlos zu sein.
Der Ordinarius der Oberprima, Professor Möbus, betrat die Klasse.
»Na, meine Damen, Sie haben doch nicht etwa Angst? Lauter Bleichgesichter? Tun Sie doch nicht so, als ob Sie ins Land der Menschenfresser müßten. Wir skalpieren keinen, der was kann.«
»Ja, wenn man was kann!« Jede, und hatte sie ihrem Kopf noch soviel Gelehrsamkeit eingetrichtert, war in diesem Augenblick von ihrer gänzlichen Unwissenheit überzeugt.
»Allerdings kann ich Ihnen nicht verhehlen«, fuhr der Ordinarius fort, »daß drei von ihnen das Examen nicht machen werden.«
Zehn Herzen setzten in jähem Schreck aus. Keins von den verängstigten Küklein sah, wie lustig Doktor Möbus über seine Brille hinwegblinzelte. »Fräulein Ulrich, lernen Sie nichts mehr, es nützt Ihnen doch nichts.«
Ach, Marlene hatte es ja gewußt, daß sie die Mathematikarbeit total verhauen hatte. Am Ende ließ man sie daraufhin gar nicht zum Examen zu. Wer waren bloß die Ärmsten, die drei, von denen der Ordinarius schon im voraus wußte, daß sie das Examen nicht bestehen würden? Jede einzelne glaubte in ihrer Erregtheit, der Lehrer habe sie dabei besonders angesehen.
»Time and hour runs through the roughest day.« Gelernt hatten sie alle das Wort Shakespeares. Aber durchlebt, selbst empfunden hatte es bisher noch keines der sorglosen, jungen Dinger. Heute empfanden sie es: Auch die bangesten Minuten vergingen schließlich.
»Meine Damen, Sie können sich in die Aula begeben!« Da war es, das Schreckenswort. Mit schlotternden Knien kamen sie der Aufforderung nach.
Marlene und Ilse Hand in Hand. Annemarie Braun als Vorreiter. Jetzt, wo es soweit war, wollte sie es nicht merken lassen, wie gottserbärmlich ihr zumute war. Besonders Fräulein Neuberts Eulenaugen sollten sich nicht an ihrer Schwäche weiden.
Da saßen sie am langen Tisch nebeneinander aufgebaut, alle die sie durch die langen Schuljahre hindurch geleitet hatten. In der Mitte thronte der Schulrat. Sah eigentlich ganz menschlich aus, der alte Herr. Jetzt lachte er sogar im Verein mit dem Direks. Wie konnte der Mann nur lachen, während zehn junge Seelen sich in Marterqualen wanden. Na, wenigstens war er guter Laune. Der Ordinarius verlas die Namen der Abiturienten. Gepreßtes »Hier« antwortete.
Dann faltete der Direktor feierlich einen weißen Bogen auseinander. »Das schriftliche Abiturientenexamen haben bestanden ...« Es erfolgte wieder die Verlesung der zehn Namen.
Gott sei's
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