Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
einen klaren, freien Kopf mit ins Examen bringt, als daß man sich vor lauter aufgespeicherter Rumpelkammerweisheit überhaupt nicht mehr darin zurechtfindet. Hör auf mich bemoostes Haupt, Kleines. Marsch!«
Annemarie schwankte noch immer. »Nur wenn du mir versprichst, Hänschen, mich unterwegs nach Latein und Mathematik abzufragen.«
»Den Deibel werd' ich! Kein Wort wird beim Spazierengehen von dem verflixten Examen gesprochen. Los, Kleines!«
»Na, wenn ich rassele, hast du die Schuld, Hans!« Zögernd holte Annemarie ihre Jacke herbei.
Nesthäkchen war in den letzten beiden Jahren eine junge Dame geworden. Kaum kleiner als der Bruder, rank und schlank wie eine Weidengerte. Das Blondhaar flimmernd im Sonnenschein und das schmal gewordene Gesichtchen so hübsch, daß manch bewundernder Blick das Mädel streifte. Annemarie merkte es nicht. Die war mit ihren Gedanken mittendrin in dem morgigen Tag. Sie sah den Schulrat vor sich sitzen, daneben den Direks, der ihr, seitdem sie damals einen Schülerrat hatte gründen wollen, nicht ganz grün war. Fräulein Neuberts Eulengläser funkelten streng im Sonnenlicht und ...
»Na, Annemie, ist's hier nicht schön?« Hans war auf dem Platz vor der Kunstschule stehengeblieben, der wie ein großes Beet von farbenprächtigen Hyazinthen und Tulpen leuchtete.
»Wie meinst du?« Nesthäkchen sah und hörte nichts.
»Ja, potztausend, Mädel, du hast doch sicher eben wieder zwischen a und b Quadrat gesteckt. Denkst du, es ist interessant für mich, in einer Gesellschaft spazierenzugehen, gegen die der Fisch noch geschwätzig ist?« gab ihr der Bruder gutmütig zu verstehen.
»Ich habe dir ja gleich gesagt, du sollst mich zu Hause lassen. Die Examensfurien sind hinter mir her, ich kann ihnen nicht entrinnen.«
»Entrynnien meinst du wohl.«
Da mußte Nesthäkchen lachen. Frei und leicht wurde es Annemarie plötzlich zumute. Sie sah jetzt erst, daß die Sträucher lichtgrünes Geschmeide trugen und die Bäume sich mit rostbraunen Knospen besteckt hatten. Frühling wurde es!
»Sieh nur, die jungen Entchen ... wie süß! Die alte sieht aus wie Fräulein Drehmann. Die watschelt genauso. Wenn wir uns nicht den Hals im Examen brechen, muß ich Ilse Hermann sagen, daß sie ruhig ein bißchen bei unserm Festspiel watscheln soll. Sie spielt nämlich Fräulein Drehmann.« Hans brauchte sich nicht mehr über seine schweigsame Begleiterin zu beklagen. Annemaries Mundwerk war jetzt wieder aufgezogen.
»Unverschämt von uns, Hänschen, nicht? Da setzen wir uns hin und studieren ein Festspiel ein, in dem wir den Lehrern tüchtig die Federn ausrupfen, und vorläufig sind sie es doch noch, die uns in ihren Fängen haben. Aber das Abiturientenfest soll doch übermorgen steigen. Wenn wir doch alle mit heilen Gliedern durch wären!«
Auf dem Neuen See trieb Klaus im frühlingsgrün gestrichenen Ruderboot plätschernd am Ufer hin. »Immer rein, meine Herrschaften«, rief er den Geschwistern zu.
Das ließen die beiden sich nicht zweimal sagen. »Annemie kann rudern ... physische Kraftaufwendung ist das beste Gegengift bei Geisteskraftverschwendung«, verordnete Klaus.
Wirklich, die Muskelanstrengung tat Annemarie wohl. Der See träumte goldig-grün zwischen rieselndem Erlengezweig. Fischlein spielten auf dem klaren Grund. Still zog das kleine Boot seine Bahn. Das Schreckgespenst des morgigen Tages versank vor diesem Abendfrieden.
Als das Schifflein eine Stunde später am Bootshause anlegte, kam Nesthäkchen wie aus einer anderen Welt. Sie hatte tatsächlich während der ganzen Zeit nicht einmal an das morgige Examen gedacht.
Freilich, zu Hause, als die treulos zurückgelassenen Schulbücher vom Schreibtisch so vorwurfsvoll herüberblickten, kam sie sich recht pflichtvergessen vor.
Aber beim Abendessen galt es, möglichst unbefangen zu erscheinen, damit die Eltern keine Lunte riechen sollten. Das Rudern hatte ihr die Wangen gerötet und den Appetit angeregt. Während sie mittags jeder Bissen im Halse gewürgt hatte, schmauste sie jetzt tapfer drauflos. Vater und Mutter waren glücklich, wie gut es ihrem Nesthäkchen mundete.
Eine lange, bange Nacht lag vor ihr. Wäre es nicht richtiger gewesen, sie hätte bis zum Morgengrauen bei den Büchern gesessen, anstatt sich schlaflos in den Kissen zu wälzen! Annemarie hatte nicht viel Zeit, sich dies zu fragen, denn sie vergaß, daß Rudern nicht nur Wangen rötet und die Eßlust steigert, sondern auch rechtschaffen müde macht. Nesthäkchen, das
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