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Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit

Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit

Titel: Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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sahen nicht mehr lustig drein, sondern ziemlich jämmerlich, die Kälte prickelte in den Fingern, die den Wagengriff umspannt hielten.
    »Wenn wir nachher den Zentner Kohlen nach Hause schieben, werden wir schon schwitzen«, tröstete Annemarie sich und die frierende Freundin. »Sieh nur, Vera, da kommen Kohlen ... ein, zwei, drei Handwagen. Nun ist es sicher nicht mehr weit«, frohlockte sie.
    Mit neuen Kräften ging es vorwärts. Wirklich, bei der nächsten Straßenbiegung sahen die beiden den Nordhafen vor sich. Aber was sie noch erblickten, war nicht gerade dazu angetan, ihren gesunkenen Lebensmut zu heben. Schwarz von Menschen und Fuhrwerken aller Art wimmelte es vor ihnen bis zu den Kähnen hinunter, von denen die Kohlen ausgeladen wurden. Das war ein Gedränge und ein Geschrei, daß einem Sehen und Hören vergehen konnte. Vera hielt die Freundin ängstlich zurück.
    »Wollen du gehen wirrklich in die Gewühl, Annemie?« fragte sie zögernd.
    »Natürlich, denkst du, wir haben den weiten Weg in der Kälte gemacht, um jetzt das Hasenpanier zu ergreifen? Du kannst hier mit dem Kinderwagen warten, Verachen, ich werde sehen, daß ich Kohlen auftreibe. Auf Wiedersehen!« Da verschwand Annemaries dunkle Pelzmütze zwischen all den Menschen und Pferdeköpfen. Vera stand allein mit ihrem Kinderwagen da. Hu ... pfiff ein scharfer Wind vom Hafen her. Am Nordpol konnte es wirklich nicht eisiger sein als hier am Nordhafen.
    Viertelstunde auf Viertelstunde verging. Annemarie kam nicht wieder. Vera hatte überhaupt kein Gefühl mehr in den Händen und Füßen. Mit angstvollen Augen beobachtete sie den Zeiger der Kirchenturmuhr drüben. Dreiviertel zwölf. Sie mußte nach Haus zu Tisch, wollte sie heute nachmittag nicht zu spät zur Schule kommen. Ob sie den Kinderwagen einfach im Stich ließ und fortging? Da fühlte sie plötzlich etwas Heißes an ihren Lippen. Hinter ihr stand Annemarie und hielt ihr mit verklammten Fingern einen Topf schwarzen, heißen Kaffee an den Mund. »Da trink, Verachen, daß du warm wirst. Es ist zwar kein Mokka, aber heiß ist er wenigstens. Ich habe ihn drüben in der Wirtschaft erstanden.«
    »Haben du Kohlen?« Veras erstarrte Finger begannen an dem heißen Topf aufzutauen.
    »Nee, noch nicht. Es ist ein zu großer Andrang. Da können wir bis morgen früh hier anfrieren. Aber einen Kavalier habe ich aufgegabelt, der mir die Kohlen besorgen wird.« Annemarie wies auf einen etwa fünfzehnjährigen Burschen, der ihr folgte. »Er besorgt mir die Kohlen zur Großmama hin. Ich habe ihm zehn Mark dafür gegeben und ihm warmes Essen und ein Paar abgelegte Stiefel von Klaus versprochen. Dafür tut er's. Wir können dann ruhig mit der Straßenbahn nach Hause fahren, den Kinderwagen lasse ich ihm hier.«
    »Aber die Geld für die Kohlen? Du nicht können lassen frremde Mensch so viele Geld, Annemie«, flüsterte ihr die Freundin warnend zu.
    »Tu' ich auch nicht, du Schlaukopf. Er will es auslegen. Heute nachmittag bekommen wir unsere Kohlen. Und nun schleunigst nach Hause, sonst denkt Großmama, ich sei irgendwo eingefroren.«
    So gut es gehen wollte, schrieb Annemarie mit den klammen Fingern auf ein Notizblatt die Adresse der Großmama und überreichte sie ihrem Kavalier, der sie grinsend in Empfang nahm.
    »Also, je mehr Kohlen, desto besser! Und passen Sie gut auf den Kinderwagen auf, er ist ein gepumpter.«
    Dann fuhr das schlaue Nesthäkchen, vor Kälte zitternd, aber stolz, daß es seine Sache so fein gemacht hatte, mit Vera nach Hause.
    Kulickes Kinderwagen sah kein Mensch mehr wieder. Brauns mußten Schadenersatz dafür leisten.
    Großmama und Tante Albertinchen bekamen keine Kohlen, aber Annemarie und Vera ... die Grippe.

Examensnöte
     
    Zwei Jahre sind seit jenem bösen Winter dahingegangen. Durch die Welt geht wieder ein Frühlingsahnen. Vom Grunewald her weht es lind und weich über das steinerne Häusermeer der Millionenstadt.
    Ei ... hat denn das junge Menschenkind, das da an dem zierlichen Schreibtisch den Blondkopf tief in die Bücher und Hefte vergraben hat, gar keinen Blick für den ans Fenster pochenden Lenz? Fühlt es nicht, wie kosend die Sonne es mit warmen Strahlenfingern streichelt?
    Nein, Nesthäkchen murmelt lateinische Worte vor sich hin, rechnet mit X-Quadrat und Ypsilon. Durch das hübsche Köpfchen ziehen Geschichtszahlen, Literaturdaten, englische und französische Verben in buntem Reigen. Annemarie hat keine Zeit, dem ersten schüchternen Anpochen des Lenzes zu lauschen.

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