Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
darf ich Sie führen, gnädiges Fräulein?«
»Es war ein Hahn«, meinte die vergeßliche Annemarie überlegend.
»Ach, sicher, ,Der weiße Hahn’. Da sind Sie gut aufgehoben.« Aber als sie an dem nett aussehenden Hotel standen, merkte Nesthäkchen, daß es dort nicht zu Hause war.
»Nee, ,Der weiße Hahn’ ist es nicht. Haben Sie hier nicht noch mehr Hähne?«
»O freilich, noch eine ganze Menge halt, krähende und andere«, scherzte ihr Begleiter. »Da wäre noch ,Der goldene Hahn’, ,Der bunte Hahn’ -na, dort werden Sie nimmer abgestiegen sein.«
»Doch, ,Der bunte Hahn’ ist’s! Dort habe ich mein Zimmer! Alle anderen Hotels waren überfüllt.« Annemarie war glücklich, daß sie jetzt wieder den Namen wußte.
»So«, sagte Rudolf Hartenstein und lächelte. »Na gut, ich führe Sie schon hin.
Kommen Sie. Sie hätten sich aber lieber heute nachmittag meiner Führung anvertrauen sollen, gnädiges Fräulein. ,Der bunte Hahn’ ist nicht viel besser als der Stuttgarter ,Elefant’«.
»Wenn ich gewußt hätte, daß Sie so nett und so – so zuverlässig sind, hätte ich es auch sicher angenommen«, meinte Nesthäkchen treuherzig. »Aber Sie hätten doch ebensogut ein Betrüger sein können.«
Da lachte der junge Herr amüsiert. »Danke sehr für die Ehrenerklärung! Und nun: Grüß Gott, gnädiges Fräulein. Wir sind angekommen. Glück auf den neuen Weg! Und falls Sie irgendeinen Rat in Tübingen brauchen, meine Schwester wohnt Parkstraße 3. Sie ist halt zuverlässig wie ich«, setzte er noch scherzend hinzu. Sie standen vor der verwitterten Front des »Bunten Hahnes«.
»Haben Sie herzlichen Dank für Ihr Geleit, Herr Hartenstein.« Annemarie schüttelte ihm abschiednehmend die Rechte.
»Ich denk’, wir sehen uns schon noch mal wieder in diesem Leben. Die Welt ist ja so klein!« Den Hut lüftend, schritt Nesthäkchens Ritter davon.
Nun war sie oben in ihrem selbst bei der Abendbeleuchtung nicht sehr sauberen Zimmer. Annemarie war von ihrem Abenteuer in gehobener Stimmung. Ach was, eine Nacht würde es schon gehen. Wenn man müde ist, schläft man in rotkarierten Betten genauso gut wie in weißen. Und erschöpft war sie jetzt wirklich.
Sie trat zu dem Bett. Da saß auf dem Kopfkissen ein schwarzer Punkt. Mißtrauisch betrachtete ihn Annemarie. »Ist der Punkt in fünf Minuten noch da, lege ich mich ruhig ins Bett, dann hat’s damit nichts auf sich«, überlegte sie. »Ist der schwarze Punkt weg, dann gibt’s hier Ungeziefer. Keine zehn Pferde kriegen mich dann in das Bett.«
Als Annemarie nach einigen Minuten das Kopfkissen untersuchte, war der schwarze Punkt verschwunden.
»Schön«, sagte Annemarie gottergeben und setzte sich auf einen Holzstuhl in die äußerste Zimmerecke. »Diese Nacht wird ja auch mal vergehen.«
Und sie verging – aber langsam. Als der Hausknecht, ihrer Weisung zufolge, morgens um halb fünf gegen die Tür klopfte, um sie zu wecken, war Annemarie auf ihrem harten Holzstuhl so steif geworden, daß sie erst Turnübungen machen mußte, um ihre Glieder wieder zu gebrauchen.
Nachdem sie für das unbequeme Lager einen hohen Preis hatte zahlen müssen – denn in ihrer Unbedachtheit hatte sie vergessen, gleich danach zu fragen – zog Nesthäkchen ziemlich übernächtigt in den Morgen hinaus.
Eigentlich hatte Annemarie ganz im geheimen gedacht, daß ihr Kavalier von gestern am Ende auf dem Bahnhof erscheinen würde, um ihr noch bei der Abreise Ritterdienste zu erweisen. Aber der dachte gar nicht daran, seinen Morgenschlaf zu opfern.
Der einzige Bekannte, den Nesthäkchen auf dem Bahnhof entdeckte, war der Stationsvorsteher mit der roten Mütze.
In Tübingen
Die große Bahnhofshalle in Stuttgart, oder vielmehr »Stuckart«, wie die Einwohner ihre Stadt zu nennen pflegen, unterschied sich wenig von den Berliner Bahnhöfen. Annemarie schaute sich vergeblich die Augen nach Marlene und Ilse aus.
Sie hatte gehofft, daß die beiden sich zum nächsten von Würzburg kommenden Zug an der Bahn einfinden würden. Aber soviel Annemarie auch schaute, sooft sie auch einer Schwarzhaarigen und einer Hellblonden nachjagte – stets vergeblich.
»Dämelsack!« knurrte Nesthäkchen ärgerlich in sich hinein und meinte eigentlich sich selber mehr damit als die Freundinnen. Denn Annemarie hatte wieder mal nicht recht hingehört, wie das Hotel hieß, in dem Marlenes Vater Zimmer für sie bestellt hatte. Nun stand sie ratlos am Ausgang und wußte nicht, wohin sich wenden. Hotel neben
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