Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
am schönsten sei. Gesellschaft hätte die gesprächige Annemarie allerdings ganz gern bei diesem Ausflug gehabt. Wiederum aber war es herrlich, so frei und ungebunden auf eigene Faust loszumarschieren.
Annemarie war noch nie mit einer Bergbahn gefahren. Die Bahn war ziemlich voll, denn ein Teil der Stuttgarter Bevölkerung hatte seine Villen oben auf den Höhen. Eine Dame, die hinter ihr saß, belästigte sie mit ihrem großen Hut.
Nesthäkchen stieß ärgerlich mit dem Rücken dagegen. Es nützte nichts. Solche Rücksichtslosigkeit – mochte sie doch ihren Hut abnehmen, wenn er so riesengroß war wie ein Wagenrad.
»Au!« machte Annemarie empört.
»Entschuldigen Sie bitte.« Der schüchterne, bescheidene Ton dieser Stimme ließ Annemarie jäh den Kopf wenden. Hellblonde Haare schauten unter dem großen Hut hervor und »Ilse!« – jubelnd umfing Nesthäkchen, unbekümmert um die übrigen Insassen, die »Rücksichtslose«.
»Haben wir dich endlich wieder – Gott sei Dank! Jetzt wirst du aber fest an die Leine genommen, daß du nicht wieder entlaufen kannst, Annemarie. Wir waren sehr in Sorge um dich. Marlene hat sogar schon heiße Tränen um dich vergossen.«
»Ich bin eben kunstbegeisterter als ihr und wollte mir die berühmte Barockstadt Würzburg ansehen. Als Zugabe habe ich noch eine nette Bekanntschaft gemacht.«
»Junges Mädchen?«
»Nee-junger Herr.«
»Wa-as? Man braucht doch bloß den Rücken zu wenden, sobald unser Nesthäkchen allein ist, macht es Unfug«, neckte Ilse.
»Du, ich habe die Verantwortung für dich übernommen«, meinte Marlene halb ernst, halb scherzhaft.
»Dann wundere ich mich, daß du bei deiner großen Sorge um mich nicht heute morgen am Bahnhof warst, um mich in Empfang zu nehmen.«
»Ilse hielt es für ausgeschlossen, daß du Langschläferin den ersten Zug vor Tau und Tag benutzen könntest. Wir glaubten, du kämest erst mit dem Mittagszug.
Aber als du dich da auch noch nicht einfandest, machten wir uns ernsthaft Gedanken. Ich wollte schon an deine Eltern telegrafieren.«
»Na, das hätte noch gefehlt!«
»Warum bist du denn aber heute morgen nicht gleich ins Hotel Monopol gekommen, Annemie?« forschte Ilse.
»Weil ich den Namen verschwitzt hatte, du Schlaukopf. Wie ein verlorenes Schaf bin ich auf der Suche nach euch von Hotel zu Hotel geirrt.«
»Und wo bist du nun abgestiegen?«
»Piekfein! – Hotel Continental mit hellblauer Seidensteppdecke und Kachelbad.«
»Annemie, das muß doch ein Heidengeld kosten.« Ilse machte erschreckte Augen.
»Bewahre – bloß zwanzig Mark die Nacht.«
»Aber Annemie, bist du denn ganz und gar übergeschnappt«
»Du bist ja größenwahnsinnig.« Auch Marlene war entsetzt.
»Dafür habe ich in der vergangenen Nacht auf einem Holzstuhl kampiert«, lachte die ausgelassene Annemarie.
»Heute siedelst du noch zu uns über. Du darfst nicht eine Sekunde mehr ohne Aufsicht bleiben, sonst brennst du uns am Ende wieder durch.«
»Warum nicht, wenn mein ,Kavalier’ aus Würzburg hier wäre!«
»Ach, du schwindelst ja«
»Du willst uns bloß neugierig machen – wie sah er denn aus?« »Du brauchst gar nicht erst neugierig gemacht zu werden. Du bist es ja schon, Ilse«, lachte Annemarie. »Also braune Haare, glaub’ ich, hatte er, Augenfarbe weiß ich nicht, denn es war schon dunkel. Und Stuttgarter Dialekt sprach er ganz reizend«
»Schwindel!« sagten die beiden Kusinen wie aus einem Munde.
»Na, wenn ich seine Schwester, die in Tübingen studiert, aufsuche, werdet ihr mir wohl glauben«, beteuerte Annemarie.
Die beiden wußten nicht, war es Ernst oder war es Scherz. Annemarie war eine Flunkerei durchaus zuzutrauen. Jedenfalls erhöhte dies noch die fidele Stimmung.
Im rosigen Abendlicht zwischen grünen Rebstöcken marschierten die drei Freundinnen singend talwärts dem schönen Stuttgart zu.
Es war nicht so einfach, Annemarie von ihrer hellblauen Steppdecke und ihrem Kachelbad loszulösen. Der vornehme Herr Geschäftsführer des Hotels Continental beanspruchte den vollen Preis für das Zimmer. Schließlich einigte man sich auf die Hälfte.
Nesthäkchen schlief an diesem Abend auch ohne seidene Steppdecke den Schlaf des Gerechten und war am nächsten Morgen kaum ins Leben zurückzurufen.
Etwas später entführte das gen Tübingen gehende »Zügle« die drei. Das erste, was die zukünftigen Studentinnen von ihrer Universitätsstadt zu sehen bekamen, war eine Schafherde. Auf der Wiese gleich hinter dem Bahnhof weidete sie
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