Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Hotel, welches mochte das richtige sein? Es half nichts, sie mußte die Runde machen und Nachfrage halten. Aber, wohin sie sich auch wandte, nirgends waren die beiden jungen Damen abgestiegen. Was nun? Annemarie eilte wieder zum Bahnhof zurück in der Hoffnung, daß sich die Freundinnen vielleicht verspätet hätten. Mit dem gleichen Mißerfolg.
Da leuchtete ein Plakat von der Bahnhofswand: »Hotel Continental, erstklassig mit allem Komfort.« Halt, war das nicht der Name des Hotels gewesen? Sicherlich! Annemarie glaubte sich jetzt zu erinnern. Der Name war nicht unter den Gasthäusern, die sie bisher abgeklappert hatte, also vorwärts mit frischer Hoffnung zum Hotel Continental. Sie fragte einen Polizisten nach dem Weg.
»Ja, da müssen’s erseht nach linksch gehe und dann gradaus und dann wieder das Gäßle nach linksch, aber das ischt weit.« Nesthäkchen, das zum ersten Mal den unverblümten schwäbischen Dialekt hörte, strahlte vor Vergnügen. Es dankte und machte sich auf.
»Erseht nach linksch«, wiederholte Annemarie übermütig, »dann gradaus und dann wieder nach linksch«; sie sprach noch mehr,, sch« als der biedere Schwabe.
Der Polizist hatte recht. Es war ein weiter Weg. Sie bekam einen guten Teil der Stadt dabei zu sehen und war entzückt von der anmutigen Lage Stuttgarts, in Weinberge eingeschmiegt. Vornehme Villenstraßen, gartenumkränzt, zogen sich rings zu den Höhen.
So – nun stand sie endlich, ziemlich erhitzt, vor dem großen Prachtbau des Hotels »Continental«.
Himmel – wie elegant! Hier sollten Marlene und Ilse abgestiegen sein? Eigentlich kaum denkbar. Annemarie mußte lächeln, wenn sie vergleichend an den »Bunten Hahn« zu Würzburg dachte.
Unverfroren, wie das ihre Art war, betrat sie das mit lichtblauen Plüschteppichen belegte Vestibül und fragte den Portier nach den Freundinnen. Die Namen wollten sich im Fremdenbuch nicht zeigen. Aber ein schönes Zimmer war gerade soeben frei geworden. Die Dame hätte heute Glück. Ein Zimmer mit Bad wär’s.
Gewiß war das Zimmer sehr teuer. Und sicher hatten Marlene und Ilse für sie doch Unterkunft. Aber wo?
»Wenn das gnädige Fräulein noch kein Logis hat, wird es schwerlich ohne Vorbestellung noch etwas finden«, meinte der Portier. »Nur durch Zufall ist das eine Zimmer frei.«
»Was kostet es?« fragte Annemarie mit kühnem Entschluß.
»Zwanzig Mark.«
»Wieviel?« Annemarie traute ihren Ohren nicht.
»Das ist nit zuviel für ein schönes Balkonzimmer mit Bad«, meinte der Geschäftsführer.
Zwanzig Mark – das bedeutete einen großen Riß in ihre Kasse. Trotzdem nahm Annemarie das Zimmer. Sie mußte doch ein Nachtquartier haben, und das Umherirren war sie nun leid.
Ja, der hochelegant möblierte Raum sah freilich anders aus als das schmutzige Hofzimmer im »Bunten Hahn«. Statt der rotkarierten Bettüberzüge eine hellblauseidene Daunendecke – wie eine Prinzessin.
Zuerst stieg Annemarie in die Fluten der seegrünen Kachelwanne im Nebenraum hinab.
Nun war es Zeit zum Mittagessen. Aber in dem vornehmen Hotel war es gewiß unerschwinglich. Wohin?
Sollte sie – nein, Herr Hartenstein hatte sie doch davor gewarnt. Ach was, billig war der »Elefant« bestimmt. Und sie mußte doch die zwanzig Mark Nachtquartier wieder auf andere Weise wettmachen.
Nach vielem Hin und Her hatte sie den »Elefanten« glücklich ausfindig gemacht.
Es war recht voll in dem tabakverqualmten Raum. Arbeiter in blauen Hemden, Fuhrleute und Marktweiber lärmten und lachten in dem dumpfen Lokal. Nesthäkchen nahm an einem der ungedeckten Tische Platz und bestellte wie einer ihrer Nachbarn »Erbswurscht mit Salat«. Die Kellnerin brachte gleich dazu einen großen Steinkrug mit Bier. Annemarie ließ es sich schmecken.
Nur die vielen Blicke, die sie streiften – denn oft mochte es wohl nicht vorkommen, daß eine so gutangezogene junge Dame hier speiste –, waren ihr etwas lästig.
»So – den ,Elefant’ hätten wir kennengelernt, und wundervoll billig war’s obendrein!« Befriedigt trat Nesthäkchen wieder auf die Straße.
Die Hoffnung, Marlene und Ilse irgendwo in dem Gewühl der Hauptstraße auftauchen zu sehen, erfüllte sich nicht. Nun, schlimmstenfalls traf man sich in Tübingen wieder. Vielleicht auch schon im Zug dorthin. Was sie mit dem Nachmittag anfangen sollte, machte Annemarie kein Kopfzerbrechen. Von Mitreisenden hatte sie gehört, daß die Aussicht auf Stuttgart von einer der Höhen, zu denen eine Zahnradbahn hinaufführte,
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