Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
und empfing die Ankömmlinge mit wehmütigem »Mäh-mäh«.
»Der Willkommensgruß ist sehr verheißungsvoll!« lachte Annemarie.
Man glaubte sich hier wirklich in Urzeiten zurückversetzt. »In meinem Leben habe ich kein Schaf gesehen«, wunderte sich Ilse.
»Sehr schmeichelhaft«, meinte Marlene, während die unverbesserliche Annemarie trocken hinwarf: »Du pflegst doch oft genug in den Spiegel zu sehen, Ilse.«
Dieses Kompliment trug ihr natürlich einen freundschaftlichen Knuff ein. Wie übermütige Schulgören hielten die drei Freundinnen ihren Einzug in Tübingen.
»Zuerst nehmen wir uns ein Hotelzimmer und suchen uns dann in Ruhe eine passende Wohnung«, schlug der Reisemarschall Marlene vor.
»Bude heißt es«, verbesserte Nesthäkchen, das von den Brüdern her mit studentischer Redeweise vertraut war.
Nachdem man den Reisestaub abgeschüttelt hatte, ging es auf die Wohnungssuche.
Dies war durchaus nicht so einfach.
Bald war Annemarie nicht von der Neckarbrücke fortzukriegen, da sie eine Bootsfahrt machen wollte und bereits mit einem Kahnvermieter Verhandlungen anknüpfte. Bald blieb Ilse, das Baumeisterskind, zurück, um das entzückende alte Stadtbild, das sich terrassenartig am Neckarufer aufbaute, gebührend zu bewundern.
»Seht doch bloß, wie die mittelalterlichen Giebelhäuser den Berg hinaufklettern, als ob sie sich überpurzeln, und hoch oben als Krönung das alte Schloß Hohentübingenfamos! «
»Ilse, du hast noch ein ganzes Jahr Zeit, die Schönheit Tübingens zu bewundern«, mahnte die zielbewußte Kusine. »Aber zum Wohnungssuchen haben wir nicht so lange Zeit.«
»Pedant!« schalt Annemarie, »da haben wir uns ja recht nett mit dir verheiratet.
Wir wenden uns einfach an die Schwester meines Würzburger Freundes. Die wird uns sicher gern behilflich sein.«
»Einverstanden. Wo wohnt sie denn?«
Ja, wo wohnte sie?
Nesthäkchen machte ein ratloses Gesicht. »Wie hieß doch bloß die Straße. Ich habe sie total vergessen. Aber es wird ja hier irgendsowas wie ein Adreßbuch geben.
Der Name war bestimmt Hartenstein.«
Aber trotz allem Nachforschen schien der Name Hartenstein in Tübingen unbekannt.
»Hans hat mir gesagt, in der Universität sei stets ein Wohnungsverzeichnis für Studentenzimmer einzusehen«, erinnerte sich Annemarie. »Vielleicht finde ich dort auch die Adresse von Fräulein Hartenstein.«
»Das Wohnungsverzeichnis ist zuverlässiger als das unauffindbare Fräulein Hartenstein. Auf – zur Universität!« kommandierte Marlene.
Durch enge, ziemlich steil aufwärts steigende Straßen und Gäßchen, dem ältesten Teil der Stadt, ging es in den neueren Stadtteil, in dem die Universität und die Kliniken lagen.
Etwas eingeschüchtert betraten die Freundinnen das geistige Heiligtum, die Universität, in dem sie von morgen an zugelassen werden sollten.
Sie ließen sich sogleich einschreiben. Annemarie für Medizin, Marlene für Naturwissenschaften und Ilse für neue Sprachen.
Einen Zettel mit Adressen freier Zimmer erhielten sie im Wohnungsnachweis der Universität. Aber ehe man sich auf die Suche machte, mußte erst der Magen befriedigt werden. Es war Mittagszeit.
»Wohin?« Unschlüssig blieben die drei funkelnagelneuen Studentinnen in den Anlagen, welche die Neustadt von der Altstadt trennten, stehen.
»Wir hätten Studenten fragen sollen, wo man gut und preiswert speist. Wollen wir noch mal zurückgehen?« schlug Marlene vor. »Besser wir gehen einfach hinterher, die gehen doch jetzt alle zum Mittagessen. Da ist ja ein ganzer Trupp vor uns – auf, zur Verfolgung!« Übermütig folgte man Annemaries Vorschlag und lief vier lustig plaudernden jungen Mädeln und Burschen nach.
Der Weg war weit. Kreuz und quer ging es, bergauf, bergab.
»Annemarie, wir wollen lieber in irgendein beliebiges Lokal gehen. Die Studenten vor uns machen Einkäufe.
Jetzt ist wieder einer in einem Zigarrengeschäft verschwunden. Einer läßt sich rasieren, es sind überhaupt nur noch zwei Mädel übrig.« Ganz bekümmert sah Marlene vor Abspannung und Hunger aus.
Aber Nesthäkchen war hartnäckig.
»Ach was, die beiden müssen auch essen. Da sind wir wenigstens sicher, daß wir in eine richtige Studentenkneipe kommen, wenn wir den beiden Studentinnen folgen.«
Wirklich, die zwei betraten jetzt ein altertümliches Haus. Die drei Freundinnen hinterdrein.
Kein Schild, kein Plakat, nur eine weiße Klingel ohne Namen.
»Die beiden Studentinnen sind hier verschwunden, folglich ist hier
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