Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Mit zusammengebissenen Zähnen und Aufbietung aller Energie zwang sie sich, die letzten Stufen zurückzulegen.
Mit lautem Hallo wurden sie droben auf der Aussichtsgalerie empfangen.
»Wir haben halt g'dacht, Neschthäkche, du wärscht wie der Schneider von Ulm durch d' Luft 'nuntergefloge«, zog sie Krabbe auf.
»Hascht auch nit wieder was auschg'fresse?« Neumann betrachtete sie mißtrauisch.
»Na, sehkrank mit h geschrieben, Annemie? Du siehst aus wie weißer Käse«, neckte auch der Bruder.
»Es war Annemarie in der Tat beim Aufstieg nit gut zumute, wir wollen sie halt in Ruh' lassen«, wehrte Rudolf die Neckereien ab, während Annemarie mit blassen Lippen zu lächeln versuchte. »Hier oben wird ihr bald besser werden.«
»Das kommt davon, wenn Frauenzimmer alles mitmachen müssen«, knurrte Hans, warf aber doch besorgte Blicke auf seine Schwester.
Annemarie wagte es nicht, hinab in die Tiefe zu schauen. Es war ihr ganz gleichgültig, ob die Berge, die man hier oben sah, die Alpen waren oder der Berliner Kreuzberg.
Der einzige Gedanke, der sie noch beherrschte, war: »Wär' ich doch bloß erst wieder unten!«
»Annemarie, willst du denn nicht einmal Umschau halten? Es ist ja ein überwältigender Rundblick«, redete Hans ihr zu.
»Dazu bischt halt auf den Ulmer Münschter g'stiege, um nix nit zu sehe?« lachte der Viehdoktor sie aus.
Ja, der konnte lachen. Wäre sie doch nur unten bei den Freundinnen geblieben! Hans schaute durchs Fernglas.
»Annemarie«, rief er plötzlich lebhaft, »ich glaube, da unten am Münsterplatz gehen unsere alten Herrschaften.«
»Wo-o?« Plötzlich kam wieder Leben in Nesthäkchen. Das Blut kehrte in ihr entfärbtes Gesicht zurück. »Wo, Hans?« Sie griff nach dem Fernglas. Mit einemmal konnte Annemie jetzt in die Tiefe sehen. »Ja - tatsächlich - das sind sie - Mutti - Mutti -« Annemarie schrie es hinab.
»Dreht sich's Mutterle schon um, Neschthäkche?« neckte der Viehdoktor.
»Guete Lunge muscht halt habe, wenn's vom Ulmer Münster bis auf den Platz 'nunterschreie kannscht.«
Annemarie hörte gar nicht, was er sagte. »Kommt runter, schnell, schnell!«
»Immer mit der Ruhe!« dämpfte Hans die aufgeregte Schwester. »Erst wollen wir mal sehen, wohin die Eltern ihre Schritte lenken werden.« Er beobachtete durchs Fernglas. »Aha - ins Münster-Cafe - schönchen, da erwischen wir sie.«
Man machte sich daran, die Himmelsleiter wieder hinabzuklimmen. Annemarie wußte nichts mehr von irgendeiner Schwindelanwandlung, nichts davon, daß sie sich vor dem Abstieg gefürchtet hatte. Die bevorstehende Wiedersehensfreude drängte jede andere Empfindung in den Hintergrund.
Endlich war man aus dem Wolkenreich wieder auf der Erde gelandet. Endlich konnte Annemarie ins Münster-Cafe hineinstürmen.
Ein gemeinsamer, froher Abend an der blauen Donau beschloß die schwäbische Wanderfahrt. Nesthäkchen war wieder einmal der Mittelpunkt für Witze und Neckereien. Daß es das Ulmer Münster bestiegen hatte, um nichts weiter von dort oben zu sehen als die Eltern, gab endlosen Stoff zur Heiterkeit. Aber auch an anderem »Stoff« fehlte es nicht. Dr. Braun feierte das Zusammensein mit den Freunden seines Nesthäkchens durch eine unverwässerte Pfirsichbowle, die den fidelen Viehdoktor noch fideler und Neumanns melancholische Karpfenaugen noch melancholischer machte.
Am nächsten Morgen trennte man sich nach allen Richtungen hin. Nesthäkchen zog mit den Eltern und dem Bruder, in Gesellschaft des Geschwisterpaares Hartenstein, sonnigen Ferientagen in dem alten Klosterstädtchen Blaubeuren entgegen.
Im wunderschönen Monat Mai
Ja, goldene Ferientage voll Sonnenschein, Waldesduft und Tannenrauschen waren es gewesen, dort zwischen dem Felsengezack an der leisplätschernden Blau.
Wenn Nesthäkchen an jene Zeit zurückdenkt, dann hat es die Erinnerung wie an ein schönes Märchen, das man in längst entschwundenen Kindertagen einmal geträumt hat. Unwirklich schön war es gewesen an dem märchenhaften Blautopf, jenem leuchtendblauen Waldsee, der in tiefster Waldeseinsamkeit verborgen liegt.
Wie lange war das her! Sonnentage entschwinden - Menschen gehen auseinander.
Regengraue Herbsttage brachten einförmig graue Arbeit. Sie wurden unterbrochen von geselligem Beisammensein mit den Freunden; von anregenden Plauderabenden bei Professor Bergholz und von den Briefen der Lieben. Manchmal, nicht allzuoft, brachte der Postbote einen Brief größeren Formats an Fräulein Annemarie
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