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Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest

Titel: Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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bedachte, erinnerten noch an das kleine Mißgeschick.
    In sprudelnder Laune marschierte die lustige Gesellschaft an der blauen Donau dahin. Nesthäkchen mit dem Akkordeon stets voran. Aber Annemarie, sonst von unverwüstlichem Frohsinn, war nicht gleichmäßig in ihren Stimmungen. Bald war sie die ausgelassenste von allen, bald ungewöhnlich nachdenklich und in sich gekehrt. Besonders in ihrem Verhalten Rudolf Hartenstein gegenüber kam dies zum Ausdruck.
    »Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt,
    Glücklich allein ischt die Seele, die liebt«, deklamierte Neumann schwärmerisch. Er ahnte nicht, wie sehr er bei Annemarie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
    Nach Möglichkeit vermied Annemarie ein Alleinsein mit Rudolf. Der tat, als mer- ke er gar nicht, daß sie ihm geflissentlich aus dem Wege ging. Wenn er sie trotz- dem mal allein erwischte, duzte er sie mit liebevoller Selbstverständlichkeit.
    »Ich bin kein ,Du', ich bin ,Sie' für Sie«, hatte Annemarie ihm das erste Mal geantwortet.
    »Ja, was, bin denn ich schlechter als der Viehdoktor und das Karpfenaug'? Darfst halt auch zu mir ,du' sagen und ,Rudi'. Ich mein', wir trinken ganz offiziell Brüderschaft, gelt, Herzle?«
    »Niemals!« Nein, nie würde sie es fertigbringen, das kameradschaftliche ,,Du«, das ihr den jungen Studenten gegenüber so leicht über die Lippen gegangen war, bei Rudolf zu gebrauchen.
    »Nimmer? Schau, Herzle, wenn ich dir alles glaub', das halt nit«, lachte sie Rudi belustigt aus.
    An diesem Tage war die lebhafte Annemarie ganz besonders still.
    Man legte das letzte Stück Weges nach Ulm mit der Bahn zurück. Rudolf, der sich heute scheinbar um Annemarie gar nicht kümmerte, mußte immer wieder seinen Blick, über den zwischen ihnen sitzenden Neumann hinweg, zu Annemarie wandern lassen, die fortgesetzt in die Abendlandschaft hinausstarrte. Er begann die Hand Annemaries, die auf der Banklehne lag, sanft zu streicheln.
    Ein Weilchen ließ die Hand es sich gefallen. Das Streicheln ging in einen zarten Druck über. Da entzog sie sich ihm. »Was wollen's denn halt immer von meiner Hand, Doktor?« verwunderte sich Neumann, die Karpfenaugen emporschlagend. Rudolf Hartenstein biß sich auf die Lippen und wurde rot.
    Annemarie aber platzte plötzlich mit hellem Lachen heraus. Sie hatte den Irrtum durchschaut. Ihr niedergehaltener Übermut brach sich impulsiv wieder Bahn. Die andern, welche von dem Intermezzo nichts gemerkt hatten, bestürmten sie mit neugierigen Fragen. Aber die Beteiligten verrieten nichts. Auch Neumann war nett genug, seinen Mund zu halten.
    Herr Braun und seine Frau wurden erst für den nächsten Tag erwartet. Der Vormittag war der Besichtigung der schönen alten Donaustadt gewidmet. Die Donau bildete hier die Landesgrenze. Alt-Ulm diesseits des breiten Stromes war württembergisch, Neu-Ulm am jenseitigen Ufer bayerisch.
    »Hie gut Württemberg allezeit!« Der Wahlspruch des Herzogs Ulrich galt auch für den Schwäbischen Wanderbund. Die malerische alte Stadt fesselte sie mehr als die vornehm stolzen Neubauten am bayerischen Ufer. Ilse schwelgte wieder in Giebelzacken und Renaissanceerkern, in rieselnden Brunnle und krummwinkligen Gäßle. Das Überwältigendste aber blieb doch das Münster, dieses Denkmal vollendeter Hochgotik.
    Das Bauratstöchterlein machte die anderen auf die künstlerische, feine Durchbruchskulptur des in die Wolken ragenden Turmes aufmerksam. Als es dann aber hieß, den Turm zu besteigen, wurde Ilse etwas kleinlaut.
    Marlene, die gute Kusine, wollte Ilse keinesfalls allein lassen. »Wir hören lieber das Kirchenkonzert, das um zwölf Uhr im Münster stattfinden soll.«
    »Das lockt mich halt auch mehr«, schloß sich Ola den beiden an.
    »Also schön, die Damen bleiben unten.« Hans war einverstanden.
    »Nee, durchaus nicht, ich bin auch eine Dame«, meldete sich Nesthäkchen. »Ich denk' ja gar nicht dran, unten zu bleiben.«
    »Mir wär's lieber, Annemie, du bliebst bei den anderen Damen«, meinte Hans bedenklich. »Wenn du vom Münsterturm heruntersegelst, kannst du deine Knochen im Schnupftuch nach Hause tragen.«
    »Ich verspreche dir feierlich, Hänschen, mir nicht das Genick zu brechen«, beteuerte Annemarie.
    »Ich übernehm' Bürgschaft«, assistierte Rudolf.
    »Solle mer halt auch liaber drunte bleibe und 's Neschthäkche auffange, wenn's ang'floge kommt?« erkundigte sich der Viehdoktor vorsorglich, ehe man die Turmkarten löste.
    Ein freundschaftlicher Rippenstoß schloß ihm den

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