Nesthäkchen 06 - Nesthäkchen fliegt aus dem Nest
Mund.
Die Schwaben voran, Annemarie in der Mitte zwischen Hans und Rudolf- damit man ganz sicher ging, daß sie keine Dummheiten machte - so setzten sich die Hochtouristen in Bewegung.
Es ging wunderschön. Die leichtfüßige Annemarie kletterte wie eine Gemse. Der Turm wurde enger. Die Wendeltreppe zog sich wie ein Korkenzieher in endlose Höhe. Durch die Sichtschächte in den Turmwänden sah man rote Ziegeldächer, schwarze Schornsteine und Giebelspitzen immer kleiner und kleiner werden.
Annemaries Schritt wurde langsamer. Sie hatte Herzklopfen. Die beiden Schwaben und Hans kletterten untentwegt weiter.
»Bist müd', Herzle?« hörte sie da Rudolfs liebevoll besorgte Worte. »Wollen wir nit umkehren?«
»Nein - nein - nur einen Augenblick verschnaufen und ...« sie verstummte. Er hatte sie schon wieder geduzt. Schon wieder gebrauchte er den Kosenamen, der so lieb klang und den sie sich doch nicht gefallen lassen durfte. Überhaupt, jetzt war es die beste Gelegenheit, ihm zu sagen, was doch nun mal gesagt werden mußte.
Hier oben hörte sie kein Mensch. Wer weiß, wenn sie ihn wieder mal allein sprechen konnte. Klar sollte es zwischen ihnen sein, noch bevor die Eltern kamen.
»Herr Doktor-«, begann sie energisch.
»Jawohl, Fräulein Braun«, gab er scherzhaft zurück.
»Rudolf, ich möchte Sie bitten, die Begebenheit in der Nebelhöhle zu vergessen.«
Sie fühlte, daß sie rot wurde.
»Ihr Wunsch ist mir Befehl - nur glaub' ich halt, das wird nit gut möglich sein.«
Er lächelte noch immer belustigt.
»Doch - es muß möglich sein!« Annemarie starrte unentwegt auf ein steinernes, lindwurmartiges Ungeheuer, das aus dem durchbrochenen Turmdach als Träger in die Lüfte hinausfletschte. »Unsere Wege müssen sich unbedingt trennen.«
Rudolf wurde ernst. Sie sah so blaß aus, ihre Stimme klang gezwungen, es war augenscheinlich, daß sie seelisch litt. »Und warum, Annemarie?«
»Weil - mein Vater hat mir nur die Erlaubnis zum Studium gegeben, damit ich später mal seine Assistentin werde. Ich darf ihn nicht enttäuschen.«
»Aber mich darfst enttäuschen, gelt? Ich bin dir halt gar nix. Für eine Assistentin läßt sich Ersatz schaffen, für zerstörtes Lebensglück nimmer!« So erregt hatte sie Rudolf Hartenstein noch nicht gesehen.
»Ihre Schwester Ola sehnt sich nach dem Heim, das Sie schon als Kind versprochen haben, ihr zu schaffen«, erinnerte Annemarie leise.
»Da kenn' ich die Ola besser. Nie würde sie meinem Glück im Wege stehen. Was der Bub dahergeredet hat, kann der Mann nicht unter allen Umständen erfüllen.«
Sie schwiegen alle beide.
»Wenn ich mich nun aus Verzweiflung hier vom Turm 'nunterstürz'?« Er hatte seinen Humor wiedergefunden.
»Das werden Sie nicht tun.« Annemarie griff entsetzt nach seinem Jackenzipfel.
»Also schön«, hörte sie Rudolf wieder ganz ruhig sagen, »dann sollen's halt Ihren Willen haben. Ich werd' die Nebelhöhle vergessen, bis -ja, bis Sie selbst mich halt wieder daran erinnern werden.« Es zuckte schon wieder lustig um seine Augen.
»Das wird nie geschehen - niemals!« unterbrach sie ihn mit aller Lebhaftigkeit.
»Warten wir's halt ab. Und nun, Annemarie, wenn Sie genug ausgeruht sind, denk' ich, wir setzen unsere Montblancbesteigung halt fort.« Er schlug einen verbindlichen Ton an.
Annemarie zögerte noch.
»Rudolf-noch eins-bitte, seien Sie mir nicht böse«, bat sie mit rührend kindlichen Augen. »Ich leide doch geradeso darunter wie Sie!« Ganz leise kam das letzte hinterdrein.
»Dummes, liebes Madie!« Sanft strich er ihr über das Blondhaar.
»Neschthäkche - liegscht schon unte?« Irgendwoher, aus den Wolken klang's.
»Wir kommen«, gab Annemarie mit lauter Stimme zurück. Sie setzten sich wieder in Bewegung.
»Jetzt steigen wir in den siebenten Himmel, Annemarie.« Er konnte schon wieder scherzen! Also ging es ihm doch nicht allzu tief. Ach, Annemarie war es durchaus nicht nach Scherz zumute. Alle Qualen der Hölle machte sie bei dem letzten sich immer noch mehr verengenden Anstieg durch. War es die durch das Gespräch verursachte Erregung, war die dünner werdende Luft oder die schmale, stets im Kreise herumführende Treppe dran schuld - es wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie griff nach einem Halt. Rudolf hatte bereits stützend ihren Arm gefaßt.
»Jetzt gehen's 'nunter, ohne Widerred'«, verlangte er mit Bestimmtheit.
Nesthäkchens Trotz bäumte sich auf und gab ihr die verlorene Kraft zurück.
»Gleich sind wir oben.«
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