Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
Pförtner über die vornehm ausgestattete Halle zum Fahrstuhl. Noch in der zweiten Etage hörte sie Cäsars Jammern hinter sich her. Treppe, Gänge, Türen - ein vielverzweigtes Labyrinth. Schließlich blieb ihr Führer vor einer der Eichentüren, die den Namen Hildebrandt trug, stehen. »Wen darf ich melden?« fragte er. »Ursula Hartenstein.«
Gleich darauf stand Ursel in einem eleganten, mit dunkelgrauem Teppichboden ausgelegten Arbeitsraum. Mit großen Augen musterte sie den kahlköpfigen Herrn, der ihr entgegentrat.
»Ah, also da wären Sie ja. Hildebrandt - freue mich, Sie kennenzulernen.« Ursels Hand wurde wohlwollend gedrückt. »Also Sie wollen bei uns als Banklehrling eintreten.« Ursel hatte keine Zeit zu widersprechen, denn der Direktor fuhr bereits fort: »Sie sollen Gelegenheit haben, sich in allem, was zum Bankfach gehört, gründlich auszubilden. Soll mich freuen, wenn Sie sich bei uns wohlfühlen werden.«
»Sicher nicht«, dachte die unverbesserliche Ursel, trotz des freundlichen Empfangs. »Wofür interessieren Sie sich denn am meisten?«
»Für Gesang, besonders für die Oper«, gab Ursel, ohne zu überlegen, zur Antwort. »Hahaha - na, das kommt für uns hier weniger in Betracht. Ich glaubte, Sie hätten vielleicht den Wunsch, in eine bestimmte Abteilung unserer Bank einzutreten. Also kommen Sie, ich werde Sie bekannt machen und in Ihren neuen Wirkungskreis einführen.« Der Fahrstuhl brachte sie wieder in die untere Etage, in der die Büros lagen. Zu einem großen, hellen Raum mit vielen Pulten, Tischen, Büchern und schreibenden Händen öffnete Direktor Hildebrandt die Tür.
»Herr Müller« - ein Herr erhob sich von einem Pult, rückte die Brille zurecht und grüßte - »ich stelle Ihnen hier unseren jüngsten Banklehrling, Fräulein Ursula Hartenstein, vor. Ein unbeschriebenes Blatt ohne jede Vorkenntnisse. Ihren bewährten Händen vertraue ich sie an - Sie werden sicher eine tüchtige Bankbeamtin aus der jungen Dame machen.« Die junge Dame schüttelte sich innerlich bei dem Wort »Bankbeamtin«, während Herr Müller dem neuen Banklehrling die Hand reichte und versprach, sein möglichstes zu tun. »Hoffe, Gutes von Ihnen zu hören, Morjen!« Der Bankdirektor verabschiedete sich. Herr Müller übernahm die Vorstellung der übrigen Damen und Herren, wohl zwanzig an der Zahl. Während Ursel ihre Sachen ablegte, machte Herr Müller einen Tisch neben sich frei. »So, Fräulein Hartenstein, hier ist Ihr Reich. Alle notwendigen Schreibutensilien finden Sie in den Kästen vor. Sie können erst mal Adressen ausschreiben und die Briefe hier kuvertieren. Die Namen stehen auf diesen bereits fertigen Formularen. Adressen finden Sie in dem Register, nach Buchstaben geordnet. Lassen Sie die Umschläge offen, daß sie noch einmal nachgeprüft werden können.«
Da saß er nun, der jüngste Banklehrling, blickte von dem Stoß Briefumschlägen vor sich auf all die gesenkten Köpfe und emsig schreibenden Finger ringsum und seufzte zentnerschwer.
O Gott - Stunden, Tage, Monate, Jahre, vielleicht ihr ganzes Leben sollte sie hier unter all den rechnenden und schreibenden Menschen zubringen? Schließlich auch solch eine lebende Arbeitsmaschine werden wie die da alle - nein - das hielt sie nicht aus. War es nicht das Richtigste, sie fing gar nicht erst an, sondern ging gleich wieder davon? Es war ja nur unnütze Zeitverschwendung, führte ja doch zu nichts. Aber hatte sie nicht ihrer kleinen Muzi zu Hause versprochen, des Vaters Wünsche nach bestem Willen zu erfüllen? Na also - los!
Ursel zückte die Feder und tauchte sie in das Tintenfaß: »Herrn Oskar Futter«, begann sie auf den Briefumschlag mit ihrer genial ungleichmäßigen Schrift hinzuwerfen. Wo wohnte er denn nun bloß, dieser Herr Oskar Futter, der sie in der ganzen Welt doch wirklich nichts anging? Er kümmerte sich auch nicht darum, wo sie wohnte. Rankestraße 9 - hm, elegante Gegend. Wer kam nun dran? Frau Emilie Binder - Herrgott, war das zum Auswachsen mopsig. Adresse um Adresse, Brief um Brief. Endlos. Stille ringsum - nur Federgekritzel, gedämpftes Schreibmaschinengerassel aus dem Nebenraum. Und draußen goldener Maisonnenschein, blühende Sträucher, Vogelsang - war sie nicht wirklich hier hinter Mauern eingesperrt, lebendig begraben? Wie hielten es die anderen Damen und Herren nur aus? Waren sie schon so abgestumpft, daß sie das Trostlose ihrer Tätigkeit gar nicht mehr fühlten? Sahen doch eigentlich ganz nett aus, besonders die
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