Nesthäkchen 08 - Nesthäkchens Jüngste
zum Trotz - sie konnte sich nicht helfen. - Da hatte auch Ursel bereits ihre Mutter beim Wickel, ihren nassen Blondkopf zärtlich gegen deren Gesicht pressend. »Und dann küßt sie den Hans und es ist wieder alles gut«, sang sie mit heller Stimme. »Diesmal ist es aber die Ursel und nicht der Hans. Also, Muttichen!« Sie kauerte sich, wie sie es als Kind getan hatte, auf das Fußkissen, mit ihren großen Blauaugen erwartungsvoll zur Mutter aufblickend.
»Ihr seid schon eine Gesellschaft!« sagte diese bloß, aber verhaltene Mutterzärtlichkeit schwang in dem Tone mit.
»Na ja, und weiter, Muzichen? Ich bin gespannt wie ein Regenschirm.« »Du brauchst gar nicht so erwartungsvoll zu sein, Ursel. Der Vater verlangt unbedingt, daß du zum Ersten als Banklehrling in die Dresdner -« Weiter kam Frau Annemarie nicht. Ursel war jäh aufgesprungen.
»Und dazu tust du so geheimnisvoll? Dazu komme ich extra vom Bahnhof wieder zurück!« Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre Ursel in Tränen grenzenloser Enttäuschung ausgebrochen.
»Nun setz dich mal wieder her zu mir, mein Mädel, und laß uns die Angelegenheit in aller Ruhe miteinander besprechen.« Zug um Zug erkannte Annemarie sich selbst in ihrem temperamentvollen Nesthäkchen wieder. »Du willst doch deinem Vater Freude machen, gelt, Urselchen? Du willst ihm doch all seine Liebe nicht durch kindische Auflehnung und Undankbarkeit lohnen? Und du mußt doch davon überzeugt sein, daß der Vater sowohl wie ich dein Bestes wollen, nicht wahr?«
Ursel hatte den Kopf an das Knie der Mutter geschmiegt. »Ihr wollt wohl mein Bestes. Aber ihr könnt euch irren. Unmöglich könnt ihr wissen, welcher Weg zu meinem Glück führt. Aber ich weiß es. Wenn ich erst die Rolle der Ännchen im 'Freischütz' singen werde, wenn man mich erst an der Staatsoper engagieren wird, dann werdet ihr schon anders sprechen.«
Frau Annemarie mußte lächeln. »Luftschlösser bauen ist das Recht der Jugend. Nur schade, daß sie kein festes Fundament haben, solche Luftschlösser. Daß sie wie Seifenblasen zerplatzen. Und selbst angenommen, du erreichst das, was dir jetzt als erstrebenswertes Ziel vorschwebt, zu deinem Glück braucht das durchaus noch nicht zu sein, mein Kind.«
»Doch - das ist das Glück!« Ursel sah mit glänzenden Augen in den Apriltag hinaus. »'Wenn ich erst da oben auf der Bühne stehe, wenn mir eine begeisterte Menge zujubelt' - 'Ich meine die Base mit der kreideweißen Nase' -«, begann sie aus dem 'Freischütz' zu trällern.
»Du weißt nicht, was für Klippen, was für Intrigen beim Theater einem das Leben vergällen können, Ursel. Du kannst ein viel zufriedener, glücklicherer Mensch werden, wenn du deine Zukunft auf solide Arbeit und Pflichterfüllung aufbaust.« »Ach, das ist ja tranig. Bei den Büchern und Rechnereien halte ich's einfach nicht aus. Paß auf, ich fange mitten bei der Arbeit an zu singen, bis sie mich wegen Ruhestörung aus der Bank rausschmeißen, Muzi.«
»Ursel, sei doch bloß mal einen Augenblick vernünftig. Sieh, ich habe dir doch noch nicht mal sagen können, was ich beim Vater für dich durchgesetzt habe«, begann die Mutter von neuem.
»Na?« Ursel schien nicht mehr viel Hoffnung in die Mission der Mutter zu setzen. »Er erlaubt, daß du Gesangstunde nehmen darfst -«
»Wirklich, Muzi? Ach, du bist mein allerliebstes Muzichen! Ich wußte es ja, daß du mich nicht im Stich lassen würdest.« Das junge Mädchen erdrückte die Mutter fast vor Seligkeit. »Ja, Ursel, aber unter der Bedingung, daß du ebenfalls seinem Wunsche folgst und zur Bank gehst. Der Gesangunterricht soll die Belohnung für die Mußestunden sein«, stellte die Mutter vor.
Ursel machte ein Gesicht, als ob sie ihren Kopf mit Ergebung auf den Henkerblock legen sollte. »Also meinetwegen! Aber ihr werdet schon sehen, was ihr euch damit einbrockt. Ehre wird Vater bei dem befreundeten Bankdirektor ganz gewiß nicht mit mir einlegen.« »Ja, Ursel, wenn du es dir gleich so vornimmst. Man geht an ein neues Amt mit dem festen Willen, sein Bestes zu geben.«
Der Märtyrerblick der jungen Dame verwandelte sich in einen verschmitzten. »Werd' ich auch. In den Gesangstunden ganz gewiß. Und nun wollen wir mal sehen, was stärker ist: die dämliche Bank oder die Opernbühne. Ach -«, sie breitete die Arme aus - »immerhin die erste Sprosse auf der Leiter der Kunst.«
»Ei, Ursel, die Leiter steht recht wackelig. Ich bedaure bereits, wenn du es so auffaßt, beim Vater ein
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