Nestor Burma in der Klemme
schrecklich aussehen“, sagte sie. „Am
besten, ich ziehe mich um und bring mich etwas in Ordnung... Wenn Sie
gestatten... Hab den Eindruck, daß Sie sich hier mehr zu Hause fühlen als ich
selbst...“
Sie schien meine Anwesenheit hier nolens volens zu akzeptieren. Im stillen beglückwünschte ich mich dazu. Laut bemerkte ich,
daß ich der Meinung sei, mich bei Madame Gremet zu befinden. Das Mädchen
überhörte das, ging nach nebenan, nahm ein hellblaues Kleid aus einem Schrank
und verschwand im Badezimmer. Ich sah mir unterdessen die Folterkammer an.
Auf einem niedrigen Bücherschrank mit sehr
verschiedenartigen Büchern und alten Ausgaben der Vogue stand ein
Telefon. Nirgendwo entdeckte ich Familien- oder andere Fotos. Bilder in
Glasrahmen schmückten die Wände. So stellt man sich nicht das Wohnzimmer einer
alten Dame vor, der Mutter eines etwas rauhbeinigen Sohnes und obendrein — wie
ich wußte — einer Witwe. Ich mußte die Hausnummer falsch notiert oder mich im
Haus — besser noch, in der Straße! — geirrt haben. Das abmontierte
Straßenschild, die stockfinstere, regnerische Nacht: Da war man vor
Überraschungen nicht sicher.
„Sie sind Mademoiselle Gremet, nicht wahr?“
erkundigte ich mich wie beiläufig.
„Ja.“
Lachend gab ich zurück:
„Nein!“
„Warum fragen Sie mich dann?“ erwiderte das
Mädchen.
Lächelnd kam sie aus dem Badezimmer. Sie trug
jetzt das helle Kleid, und auch die Strümpfe hatte sie gewechselt. Unter der
Seide sah man die Striemen, die die Fesseln hinterlassen hatten. Ihre Füße
steckten in hochhackigen Hausschuhen.
„Sie sehen bezaubernd aus“, wagte ich zu
bemerken.
Wir setzten uns, sie sich auf das Sofa, ich mich
auf einen Stuhl.
„Das Kompliment hatte ich erwartet“, sagte sie.
„Hätte Ihnen schon in der Metro Gelegenheit dazu geben sollen. Dann hätten Sie
sich die Anreise sparen können.“
„Deshalb sind Sie also vor mir geflüchtet... im
gestreckten Galopp?“
„Wieso ,deshalb’?“
„Weil Sie mich für einen gehalten haben, der ein
Abenteuer sucht.“
„Großer Gott!“ rief sie scheinbar verstimmt.
„Dann war es gar nicht das, was Sie wollten? Bin ich so häßlich geworden?“
„Sie sind sehr schön“, beruhigte ich sie.
„Aber... Wie wär’s, wenn wir das galante Geschwätz beenden würden? Wenn Sie
aufhören würden, die naive Unschuld zu spielen? Wenn wir uns ernsthaft
unterhalten würden?“
„Ausgezeichnete Idee“, stimmte sie mir
seelenruhig zu. „So würde ich dann endlich erfahren, warum Sie zu mir gekommen
sind, ausgerechnet bei diesem Wetter, das so gar nicht zum Reisen einlädt.“
„Haben Sie das die Typen von eben auch gefragt?“
„Dazu hatte ich keine Zeit.“
„Wie ist der Überfall eigentlich vor sich
gegangen?“
„Mit welchem Recht stellen Sie mir diese
Fragen?“ Ihr Ton war aggressiv. „Muß ich Ihre Anwesenheit noch lange ertragen?“
„So lange, bis ich einige Dinge geklärt habe.
Sie interessieren mich.“
„Wenn eine Frau allen, die sich für sie
interessieren, Frage und Antwort stehen müßte, hätte sie viel zu tun“, bemerkte
sie. „Aber da Sie mir zu Hilfe gekommen sind, will ich mal nicht so sein.
Vorher allerdings wüßte ich gerne, wie...“
„Wie ich im richtigen Augenblick aufkreuzen
konnte? Ach, das ist ganz einfach. Der Zufall, Mademoiselle, der pure Zufall!
Ich will einer gewissen Madame Gremet eine Nachricht von ihrem Sohn
überbringen, der mit mir zusammen in einem Gefangenenlager in Deutschland war.
Ihre Adresse lautet 32, Rue Jean-Jaurès. Ich glaube, ich hab mich in der
Hausnummer geirrt...“
„Sehr wahrscheinlich“, unterbrach mich das
Mädchen.
Ich wußte nicht recht, ob die Bemerkung ironisch
gemeint war, sich auf die falsche Hausnummer oder auf meine ganze Geschichte
bezog. Das Mädchen fuhr mit dem abgebrochenen Fingernagel über den
Kleiderstoff. Dann sah sie mir direkt ins Gesicht.
„Soll ich Ihnen sagen, worum es geht?“ Eine
rhetorische Frage, aber anders gemeint, als ich dachte. „Das alles ist nichts
weiter als eine Inszenierung. Und nicht mal originell! Schon dreizehnjährige
Pennäler denken sich so was aus... Also, Sie haben mich gesehen, ich habe Ihnen
gefallen, Sie haben alles mögliche unternommen, um mit mir ins Gespräch zu
kommen, ich hab Sie abblitzen lassen... Trösten Sie sich, Sie sind nicht der
erste... Ich weiß nicht, wie Sie an meine Adresse gekommen sind... Jedenfalls
waren Sie sehr schnell... Glückwunsch! ... Zwei Freunde von
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