Nestor Burma in der Klemme
ich.
„Tagsüber ist es anders. Komisch, man fühlt sich
nicht so schutzlos... Nachts dagegen...“
„Das leuchtet mir ein. Aber ich meinte was
anderes. Sie schienen froh darüber zu sein, daß ganz in der Nähe Bomben
fielen.“ Langsam hob sie den Kopf. Ihre Hände glitten über ihre Haare hinunter
bis zum Hals, dann stützten sie ihr Kinn.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Ich habe Ihr Gesicht gesehen. Es sah
offensichtlich ganz zufrieden aus, als Sie hörten, daß das Haus Nr. 103 in der
Rue Desnouettes getroffen sein könne.“
Sie schüttelte den Kopf. Ein trauriges Lächeln
umspielte ihre blutleeren Lippen.
„Sie machen mich schlechter, als ich bin!“
„Bomben sind nicht auf Nr. 103 gefallen, aber es
gab einen anderen Schaden.“
„Nämlich?“
„Kennen Sie einen gewissen Briancourt?“
„Nein. Wer ist das?“
„Ein Mieter des besagten Hauses. Er fand ganz
ohne Bomben den Tod.“
„Wollen Sie damit sagen, daß mein böser Wunsch
ausreichte, um ihn zu töten?“
„Nein. Er starb durch zwei Schüsse aus einem
Revolver.“
„Ach!“
In ihrem Gesicht war keinerlei Gemütsbewegung zu
erkennen. Nur ihr Blick wurde etwas härter.
„Und was geht mich das an?“ fragte sie
gleichgültig.
„Gar nichts. Hoffe ich wenigstens. Darf ich bei
der Gelegenheit fragen, was Sie in dem Haus mit den zwei Eingängen gemacht
haben?“
„Oh“, seufzte sie spöttisch, „aber natürlich! Da
ich Sie nicht vor die Tür gesetzt habe und mich weiter mit Ihnen unterhalte,
kann ich auch diese Frage beantworten, oder? Aber eins muß ich Ihnen lassen: Sie
stellen ausgefallene Fragen!“
Die Erschöpfung — falls man den Zustand so
nennen konnte, der das Mädchen hin und wieder befiel und der keine normale
Müdigkeit war — diese Erschöpfung war wie weggeblasen. Mit zurückgewonnener
Vitalität lächelte Lydia mir zu. Ein stereotypes Lächeln, irgendwie gekünstelt,
falsch. Ihre Augen spiegelten unterschiedliche Gefühle wider.
„Sie haben auf meine ausgefallene Frage noch
nicht geantwortet“, sagte ich barsch.
„Werden Sie nicht gleich böse, Monsieur Henry!
Ich erzähle Ihnen alles... Was ich in dem Haus gemacht habe? Nichts Besonderes.
Hab’s nur als Durchgang benutzt, als Abkürzung. Ich hatte es eilig, sehr
eilig... wegen der Sirenen. Das ehemalige Luftfahrtministerium befindet sich
ganz in der Nähe... In den Gebäuden sind Truppen einquartiert, glaube ich...
Ich wollte aufs andere Seineufer, nach Passy oder La Muette.“
„Und Sie wollten durch den Bombenhagel gehen?
Nicht sehr konsequent, bei der Angst, die Sie hatten
„Ja, Sie haben recht, das war sehr dumm von mir.
Der Polizist hatte allen Grund, mich so anzuschnauzen.“
Ich wollte zustimmen, mußte aber gähnen und
brachte nur unartikulierte Töne heraus. Lydia gähnte ebenfalls.
„Ich werd mal Kaffee kochen“, sagte sie, was
wohl bedeuten sollte: Durch Ihre Anwesenheit laß ich mich nicht von meinen
Gewohnheiten abbringen!
„Ja, ein Täßchen Kaffee würde mir jetzt auch
guttun“, sagte ich.
„Fühlen Sie sich wie zu Hause, Monsieur Henry.“
Wir gingen in die Küche. Sie nahm aus einem
Beutel eine Handvoll Bohnen. Es duftete angenehm nach Kaffee. Ja, sie hatte
echten Bohnenkaffee, die geheimnisvolle Kleine! Während sie sich an die Arbeit
machte, entfernte ich mich unter irgendeinem Vorwand und inspizierte die
anderen Zimmer. Geräuschlos öffnete ich die eine oder andere Schublade, fand
aber nur uninteressanten Papierkram, den ich mir in der Eile nicht näher
ansehen konnte. In der Schublade eines Sekretärs lagen drei Tausendfrancsscheine,
gut sichtbar auch für den blutigsten Anfänger der Einbrecherbranche. Das alles
war aufschlußreich... oder auch nicht. Wie vieles, was ich heute abend gesehen
und gehört hatte.
Als ich wieder in die Küche kam, goß Lydia
gerade kochendes Wasser auf die Tassenfilter, eine Fashion zwischen den
Lippen.
„Ich dachte, Sie rauchen nicht“, sagte ich
erstaunt.
„Hin und wieder eine Zigarette, das ist noch
kein Rauchen. Darf ich fragen, was Sie in den anderen Zimmern gesucht haben?“
„Fotos von eventuellen Rivalen. Hab aber nichts
gefunden. Das läßt mich hoffen. Allem Anschein nach sind Sie frei...“
Sie klopfte mit einem Löffel gegen die Filter,
um dem Wasser Beine zu machen. Ich griff das Thema von vorhin wieder auf:
„Sie wußten also, daß die 103, rue Desnouettes
zwei Eingänge hat?“
Lydia seufzte gereizt.
„Dürfte ich vielleicht in Ruhe Kaffee kochen und
dann eine
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