Nett ist die kleine Schwester von Scheiße
auch kein Geld, um sich eine zu kaufen, wird des Zuges verwiesen. Ob die Schaffnerin einen Zusammenhang zwischen ihrem Verweis und einem Fahndungsplakat mit einem Foto von Luise hergestellt hätte, wenn sie dieses eine Woche später in allen Bahnhöfen hätte hängen sehen? Glücklicherweise ist dem Mädchen nichts passiert – manche jedoch überleben das korrekte Benehmen ihrer Mitmenschen nicht.
Friedrich Nietzsche hat diese Art von Gehorsam und Selbstgerechtigkeit stets kritisiert. In »Also sprach Zarathustra« forderte er einen neuen Menschen. Frei sollte dieser Mensch sein, klug, stolz, intelligent und mutig. Ein Mensch aber, der an Regeln klebt, ist nicht intelligent und mutig, sondern dumm und manchmal sogar gefährlich.
Um mit Nietzsche zu sprechen: Die Bahnschaffnerin ist ein Kamel. Beladen mit Moralvorstellungen, Gebräuchen und Prinzipien, mit »Du sollst« und »Du musst« schleppt sie sich durchs Leben.
Das Kamel ist die erste von drei menschlichen Erkenntnisstufen, schreibt Nietzsche im Kapitel über die drei Verwandlungen. Es trägt seine Lasten und verzichtet demütig auf jeden Genuss, in der Hoffnung auf eine jenseitige Belohnung.
Die zweite Erkenntnisstufe ist erreicht, wenn sich das Kamel in die Wüste begibt, um sich in einen kämpferischen Löwen zu verwandeln. In der Einsamkeit der Wüste begegnet der Löwe einem alten Drachen, der die bestehende Moral, das »Du sollst« und »Du musst« verkörpert. Ihn gilt es zu besiegen. Den Kampf gegen diesen Drachen gewinnt der Löwe aber nur dann, wenn er ihm ein »Ich will« entgegensetzt. Der aggressive Kämpfer muss schöpferischer Kraft Platz machen. Damit ist dann die letzte Stufe zur Selbstermächtigung erreicht: das Kind. Es symbolisiert Reinheit und Unschuld und kennt keine Regeln.
Auf der Stufe des Kindes erkennt man dann: Normal gibt es nicht, die eigene Persönlichkeit ist immer eine Abweichung von der Norm. Und nur wenn es für mich viele Ausnahmen von den einengenden Regeln gibt und ich meine Wünsche und Bedürfnisse ausleben kann, werde ich meinem ureigensten Wesen gerecht.
Da stellt sich doch die Frage, warum manche Menschen eigentlich ihr ganzes Leben ein Kamel bleiben, während andere diesen Entwicklungsschritt gleich zu überspringen scheinen, um der Pippi Langstrumpf in ihnen Platz zu machen? Warum fordern manche die für sie nötigen Ausnahmen ein, während andere sich ihr Leben lang selbst verleugnen und es als ihre edelste Aufgabe ansehen, überall und immer zu funktionieren?
Mit etwas Glück eignet man sich erst gar nicht zum Kamel. Ich zum Beispiel war fünf Jahre alt, als ich das Projekt, alles richtig machen zu wollen – durchaus mit Bedauern – aufgab. Anlass war eine Party meiner Eltern, zu der auch Peter, ein langjähriger Freund meiner Eltern kommen wollte. Peter war wiederum der Freund von Gudrun, und da ich die beiden sehr mochte, freute ich mich auf ihren Besuch. Meine Mutter warnte mich allerdings zuvor, dass Peter sich von Gudrun getrennt hatte. Damit konnte ich nicht viel anfangen. – Trennen? Was sollte das heißen? Als Peter schließlich auf der Party erschien, fragte ich ihn sofort: »Wo ist denn Gudrun?« Die blonde Frau, die neben ihm stand, beachtete ich gar nicht, denn ich hatte ja Gudrun erwartet.
Meine Mutter zerrte mich ins Kinderzimmer und erklärte mir, dass ich die blonde Frau, die neue Freundin von Peter, mit meiner unhöflichen Frage sehr gekränkt hätte. »Wie konntest du nur, ich habe dir doch vorher erklärt, dass Peter nicht mehr mit Gudrun zusammen ist!«
Ich begriff an diesem Tag, dass man mit Fragen nach Freund oder Freundin sehr vorsichtig sein musste. Leider wurde mir auch bewusst, dass mir Schnitzer dieser Art jederzeit wieder passieren konnten – denn schließlich wusste ich noch unendlich vieles nicht, was andere Menschen verärgerte, kränkte oder nervte. Der nächste Fauxpas war also vorprogrammiert, und die einzige Alternative wäre, gar nichts mehr zu sagen. Da mir aber sowohl Stummheit als auch der ewige Eiertanz keinen Spaß machten, erkannte ich schnell, dass ich schlichtweg zu faul bin, um jedes Wort, jedes Bedürfnis und jede Handlung auf die Goldwaage zu legen.
Ich wurde durch meine Faulheit, andere werden durch ihre besondere Persönlichkeit, durch ihr kreatives und außergewöhnliches Temperament gezwungen, sich mit der Unmöglichkeit guten Benehmens auseinanderzusetzen. Marlon Brando, Klaus Kinski oder Lady Gaga sind wohl ziemlich schnell
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