Nette Nachbarn
Ich berührte ihre Schulter und deutete aufs
Theater. Wir gingen den nahezu verlassenen Fußweg entlang. Hin und wieder fuhr
ein Taxi langsam vorbei, und der Fahrer spähte heraus, um zu sehen, ob wir
mögliche Einnahmen bedeuteten; die wenigen Busse, die vorüberkamen, waren fast
leer. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war weit nach Mitternacht.
Auf halbem Wege zum Theater hörten wir die erste Sirene, und Dolly kam näher an
mich heran und schob ihre kleine Hand in meine. Sie hatte zu zittern aufgehört,
aber ihre Finger waren eiskalt, und sie sagte kein Wort.
Die uniformierten Männer stiegen gerade
aus dem Wagen, als wir ankamen, die Hände an den Waffen. Die Scheinwerfer ihres
Wagens tauchten das grobe Holzgerüst in helles Licht, und der Schein der blauen
und roten Warnlampen fiel auf Graffiti und die Notizen, die dort angebracht
waren. Ich wies mich aus und erklärte ihnen, daß Lieutenant Marcus uns gebeten
hätte, nichts zu tun, ehe er kam. Sie sahen mich zwar zweifelnd an, ließen uns
aber in Ruhe, bis Greg ein paar Minuten später in einem Zivilfahrzeug erschien.
Als er auf uns zukam, preßte sich Dolly an mich, und ich sagte: »Ist schon gut,
er ist ein Freund.« Zu Greg gewandt erklärte ich: »Danke, daß du gekommen
bist.« Ich merkte selbst, wie lächerlich diese Worte hier klangen.
Sein Mundwinkel zuckte, und ich wußte,
daß auch ihm das Absurde nicht entgangen war. Er sah müde und ungewöhnlich
grimmig aus. »Ist doch selbstverständlich. Ich habe gerade eine Mutter von zwei
Kindern in Forest Hill verhört, die heute nacht beschlossen hat, ihre Familie
mit der Axt heimzusuchen. Ehrlich gesagt, ich war froh, den Fall einem der
Inspektoren übertragen zu können; ich hab’ nicht mehr den Magen, den ich früher
hatte. Also, was ist hier passiert?«
Ich erklärte, von Anfang an. Als ich an
die Stelle kam, wo ich berichtete, daß Dolly und Otis Knox’ ›Freunde‹ gewesen
waren, zuckte Gregs Blick zu ihr hinüber, dann zurück zu mir, und das
Verständnis in seinen Augen sagte mir, daß ich es nicht genauer zu erläutern
brauchte. Als ich geendet hatte, sagte er bloß: »Okay, zeig mir, wo die Leiche
ist.«
Wir führten ihn hin. Dolly klebte an
mir wie eine kleine Klette, und dann machten sich die Männer aus dem Labor an
ihre Arbeit. Die Streifenbeamten hatten in einem der Flügel ein Schaltbrett
entdeckt, und jetzt war die Bühne strahlend hell erleuchtet. Dolly und ich
standen auf einer Seite, schwiegen, während Greg sich mit den Technikern und
einem Inspektor namens Mourant unterhielt, der gleich nach ihnen aufgetaucht
war. Als er schließlich wieder zu uns kam, bat ich: »Könnten wir vielleicht ins
Hotel zurückgehen? Dolly hat eine harte Zeit hinter sich, und ihre Eltern
machen sich bestimmt Sorgen um sie. Du könntest sie in ihrer Wohnung verhören.
Da ist auch eine Frau, die notfalls dolmetschen kann.«
»Keine schlechte Idee. Aber laß mich
erst eine Minute mit dir reden.« Er legte eine Hand unter meinen Ellbogen und
führte mich ein paar Schritte weit fort. »Sieht aus wie ein einfacher Tod durch
Unfall«, sagte er leise, »aber dein Verhalten läßt darauf schließen, daß etwas
anderes dahintersteckt. Glaubst du, dieses Mädchen war verantwortlich?«
»Ursprünglich habe ich schon so etwas
Ähnliches vermutet, aber jetzt nicht mehr. Können wir nicht später darüber
sprechen?«
»Nein — jetzt.«
Ich bezwang meinen Zorn über diesen
Befehl und sagte mir, daß Zorn in eine andere Zeit gehörte, als ich noch ein
Recht dazu hatte, beleidigt zu sein. »Ich war heute abend auf Otis Knox’ Ranch
in Marin County.«
Gregs Brauen schossen hoch.
»Im Zusammenhang mit der Sache im Globe
Hotel«, fügte ich hastig hinzu. »Als ich das erste Mal mit Knox sprach — um ein
Gefühl für die Umgebung zu bekommen — , behauptete er, er wüßte nichts von dem
Hotel oder den Menschen, die er als einen Haufen ›Schlitzaugen‹ bezeichnete.
Aber dann erfuhr ich von seiner Beziehung zu Dolly und beschloß, nach Nicasio
zu fahren und ihn zu fragen. Als ich ankam, hatte ich den Eindruck, daß Knox es
sich für den Abend gemütlich gemacht hatte, aber als ich mich anschickte zu
gehen, bekam er einen Anruf. Ich vermute, er plante, in die Stadt
zurückzufahren.«
»Hast du eine Ahnung, von wem der Anruf
gewesen sein kann?«
»Nein, aber ich glaube, ich kann
rekonstruieren, was er gesagt hat. Und er schien... nun, nicht direkt wütend zu
sein, aber es schien ihm doch nicht zu
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