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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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selbst
herauszukriegen.«
    »Ich habe dir doch am Telefon erzählt —
«
    »Nein, ich möchte die komplette
Geschichte hören.«
    Ich warf einen Blick auf Mary. Sie
stand neben dem Weihnachtsbaum und hatte ganz offensichtlich nicht die Absicht
zu gehen.
    »Später«, antwortete ich Carolyn.
    »Miss McCone«, sagte Mary, »ich denke,
ich verdiene ebenfalls eine Erklärung. Was den Bewohnern des Hotels zustößt — «
    »Es geht Sie nichts an.« Die Worte
kamen mir über die Lippen, ehe ich meinen Zorn zügeln konnte.
    Mary reckte sich zu ihrer vollen Größe —
die ungefähr einen Meter fünfzig betrug. In ihrem roten Morgenmantel aus
Chenille, das weiße Haar in einem Netz zusammengefaßt, sah sie aus wie Frau
Weihnachtsmann, die ihren Ehemann dabei ertappt, daß er am Weihnachtsabend
betrunken nach Hause kommt.
    »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich
hastig. »Ich wollte Sie nicht so scharf anreden, aber es handelt sich um eine
Angelegenheit der Polizei, und ich darf nicht darüber sprechen.«
    »Der Besitzer — «
    Wenn ich noch ein einziges Mal hören
würde, daß sie die Macht von Roy LaFond anrief, dann würde ich schreiend auf
die Straße hinauslaufen. Ich packte Carolyns Arm und drängte sie zur Haustür.
»Laß uns draußen auf die Polizei warten.«
    Die Nacht war noch immer klar — fast
wolkenlos, wenn man an den schäbigen Häusern vorbei zum Himmel aufschaute. Noch
immer sah man Leute in den Straßen herumstreifen: Huren, Zuhälter und Säufer,
die Rastlosen und die Heimatlosen. Die Luft war nicht mehr so frisch wie vorhin
nach dem Sturm, und um uns her stieg der charakteristische Geruch des
Tenderloin auf. Carolyn lehnte sich an die schmutzige Fassade des Hotels,
verschränkte die Arme und wartete.
    Ich blickte die Straße hinab und
entdeckte die inzwischen vertraute Gestalt von Jimmy Milligan, der vor sich hin
murmelnd dahinwatschelte.
    »Das ist der Kerl, den ich vorhin
meinte«, sagte ich, »der, der immer Gedichte zitiert.«
    »Ich weiß, wer das ist. Du weichst dem
Thema aus.«
    Das tat ich, und ich wußte nicht, warum.
Es gab keinen Grund, warum Carolyn nicht über Dolly und Otis Knox Bescheid
wissen sollte. Es würde sie traurig machen, denn es gehörte auch zu ihrer
Aufgabe, dafür zu sorgen, daß ihre Klienten nicht belästigt wurden. Aber ihre
Gefühle würden auf beruflichen, nicht auf persönlichen Erwägungen beruhen.
Nein, der Grund dafür, daß ich nicht darüber sprechen wollte, hatte mit mir zu
tun, mit meiner Müdigkeit, mit meinem Mitleid mit Dolly.
    Ich setzte zum Sprechen an, aber Jimmy
Milligan näherte sich uns, winkend, das Gesicht lebhaft vor manischem
Entzücken. Als er uns erreichte, sagte er: »›Ein blutiges und plötzliches
Ende... Kugel oder Schlinge... für den Tod, der nimmt, was der Mensch behalten
würde... zurückläßt, was der Mensch verliert.‹«
    »Was?« rief ich überrascht aus. Ich
wußte, es war nur wieder William Butler Yeats, aber seine Auswahl der Verse
stimmte auf erschreckende Weise mit meinen Gedanken überein.
    »›John Kinsella’s Lament für Mrs. Mary
Moore.‹« Er wackelte heftig mit dem Kopf. »›Was soll ich für die hübschen
Mädchen tun... jetzt, wo meine alte Kupplerin tot ist?‹«
    »Jimmy«, bemerkte ich, »Sie müssen
jedes Wort, das Yeats je geschrieben hat, auswendig gelernt haben.«
    »Hab’ ich auch, Miss. Jedes Wort.«
    »Wo haben Sie sein Werk studiert,
Jimmy?«
    Wieder wackelte er heftig mit dem Kopf.
»Ach, hier, dort, überall.«
    Er befand sich offensichtlich auf dem
Höhepunkt seiner manischen Phase und verlor die Kontrolle. Ich warf Carolyn
einen Blick zu, die ihn aufmerksam beobachtete, als wollte sie einen Katalog seiner
Symptome anfertigen.
    »Sind Sie selbst auch ein Poet, Jimmy?«
    Sein Gesicht fiel zusammen, wie unter
einer plötzlichen Last. »Oh, das war ich, Miss. Aber jetzt schon lange nicht
mehr.«
    »Aber Sie haben Gedichte geschrieben?«
    »O ja, Miss. Viele Gedichte. Und einmal
machte ich eines, das sogar in einer Zeitschrift erschienen ist. Einer kleinen
Zeitschrift, aber es war trotzdem ein veröffentlichtes Gedicht.«
    Ich wollte ihn gerade bitten, mir sein
Gedicht vorzutragen, als Gregs Zivilwagen am Bordstein hielt und er ausstieg.
Er überquerte den Bürgersteig und warf einen Blick auf Jimmy, wobei seine
Lippen zornig zuckten. Dann sagte er zu mir: »Also schön, machen wir weiter«
und schoß an uns vorbei in die Halle.
     
     
     

SECHZEHNTES
KAPITEL
     
    Greg hatte gerade das Verhör mit

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