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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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vor uns
schien. Der Strahl zitterte, als Schauder ihren kleinen Körper durchliefen.
    Ich wartete, lauschte, hörte aber
nichts als ferne Straßengeräusche. Ich beugte mich näher zu Dolly und
flüsterte: »Wohin jetzt?« Sie ging weiter, auf dieselbe schlafwandlerische Art,
und führte mich in den Hauptteil des Theaters.
    Der zittrige Strahl der Taschenlampe
zeigte Reihen über Reihen von Sitzen, die mit abgenutztem blauen Samt bezogen
waren. Aus den Seitenwänden ragten Logen mit goldenen Geländern hervor, deren
Eingänge mit demselben Material verhängt waren wie die Sitze. Auf den
Bühnenvorhängen wurde das Fleur-de-lis-Muster des Teppichs wiederholt. Es roch
alt und schal und abgestanden hier drinnen, und die Luft war kälter als auf der
Straße. Dolly neben mir fing stärker an zu zittern und riß die Taschenlampe
herum. Der Strahl schoß auf die gewölbte Decke zu und enthüllte einen riesigen
vergoldeten Kristalleuchter.
    Dolly bekam die Taschenlampe wieder
unter Kontrolle und fing an, den Gang zur Bühne entlangzugehen. Ich folgte ihr,
die Waffe in der Hand. Außer dem Schlurfen unserer Füße auf dem Teppich war
nichts zu hören. Wir stiegen auf der linken Seite zur Bühne hoch, Dolly zog die
Vorhänge beiseite und winkte mir, hindurchzugehen. Ich sah mich vorsichtig um,
atmete ihren staubigen Geruch ein. Nichts und niemand war auf der Bühne.
    Als ich mich zu ihr umdrehte, stellte
ich fest, daß Dolly auf der anderen Seite des Vorhangs zurückgeblieben war. Ich
bedeutete ihr weiterzukommen. Sie gehorchte, jetzt entschiedener, und hielt
dabei das Licht fest auf die zweite Reihe Vorhänge am hinteren Ende der Bühne
geheftet. Wir überquerten den riesigen, leeren Raum — unsere Schritte hallten
jetzt laut — und betraten die Dunkelheit auf der anderen Seite.
    Zuerst konnte ich nur abstrakte Umrisse
ausmachen. Dann sah ich, daß es sich um Seile und Metallgerüste und Leitern
handelte, die nach oben zu den Laufplanken und dem Lichtgerüst emporragten. Ganz
hinten befanden sich wuchtige Gegenstände, wahrscheinlich abgestellte Kulissen.
    Wieder leuchtete Dolly mit der
Taschenlampe auf den Boden, und ich wandte mich ihr verzweifelt und erschöpft
zu. Ich wollte sie schon scharf anreden, als ich am Lichtstrahl entlangblickte,
nach unten und nach links. Zum Fuß einer der Leitern.
    Ein Mann lag zusammengekrümmt dort. Ein
Mann in Cowboystiefeln, Jeans und einem Westernhemd. Otis Knox.
    Ich schob meine Pistole in die Tasche,
nahm Dolly die Taschenlampe ab und ging zu ihm hinüber. Er lag auf der Seite,
die Beine gespreizt, einen Arm ausgestreckt, den anderen unter sich. Sein Kopf
war in einem sonderbaren Winkel nach hinten geneigt, und Blutlachen breiteten
sich unter ihm aus.
    Ich wußte, daß es hoffnungslos war,
versuchte aber dennoch, einen Puls zu finden. Nichts. Sein Körper wurde bereits
kalt. Sein Hals war zweifellos gebrochen.
    Das war zuviel. Zwei Menschen tot,
innerhalb von zwei Tagen. Zweimal kniete ich neben einer Leiche...
    Und dann kam mir ein unangenehmer
Gedanke: Dolly hatte ihn getötet. Sie hatte ihn umgebracht und wollte jetzt,
daß ich sie deckte.
    Ich spürte einen vertrauten Reflex — das
scharfe Einziehen von Luft, das sich schnell in unbeherrschtes Schluchzen und
Keuchen verwandeln würde. Ich sagte mir, ich könnte mir das nicht erlauben; ich
mußte mit dieser Situation fertig werden, mußte mit Dolly fertig werden. Und
als mich der erste Schauder schüttelte, fühlte ich, wie sie hinter mich trat,
wie sie genauso schlimm zitterte wie ich.
    Müde stand ich auf und legte meinen Arm
um sie, befahl mir selbst, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Und wie
durch ein Wunder fühlte ich, daß ich wieder normal wurde. Ich wartete, hielt
Dolly noch fester, spürte aber keine weiteren Krämpfe in meinem Zwerchfell.
    Großer Gott, dachte ich, vielleicht
habe ich gerade eben etwas gelernt. Etwas über die Macht meines eigenen
Willens. Vielleicht habe ich eine Kraft entdeckt, von der ich nie wußte, daß
ich sie hatte.
    Ich schob Dolly zurück, fort von Knox’
Leichnam, ließ den Strahl der Taschenlampe darüber gleiten und dann die Leiter
hinauf zu dem Beleuchtungsgerüst. Eine schmale Laufplanke führte zu der Leiter
auf der anderen Seite hinüber; andere Planken zweigten über der Bühne davon ab.
War er von dort oben heruntergefallen? Es schien wahrscheinlich. Aber was hatte
er überhaupt da oben gesucht?
    Als ich die Lampe senkte und sie so
hielt, daß sie die Stelle beleuchtete, an der

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