Nette Nachbarn
Dolly und ich standen, sah ich,
daß sie weinte. Riesige Tränen liefen ihr ungehindert über die Wangen, aber sie
gab keinen Laut von sich. Sanft fragte ich: »Wann hast du ihn gefunden?«
Sie kämpfte um Beherrschung. »Direkt
bevor ich ins Restaurant gekommen bin, um Hilfe zu holen. Ich habe seinen Wagen
gesehen. Ich kam herein. Ich fand ihn.« Daß sie Knox’ Leichnam ein zweites Mal
gesehen hatte, hatte ihr scheinbar die Sprache wiedergegeben. Ich blieb stumm,
ließ sie erzählen, versuchte abzuschätzen, inwieweit sie die Wahrheit sagte.
»Ich kam herein, aber er war nicht
unten, wo wir immer hingehen...« Und dann brach sie ab, fuhr sich mit den
Händen ins Gesicht. Sie wischte die Tränen fort, sah wieder auf. »Ich schäme
mich so.«
»Du brauchst es nicht zu erklären. Ich
weiß Bescheid.«
»Sie... wissen ?«
»Ja. Knox hat es mir erzählt.«
»Er hat es Ihnen erzählt?« Ihr Gesicht
war tot.
»Schäm dich nicht, Dolly. Sag mir
einfach, was sonst noch passiert ist.«
Im selben ausdruckslosen Ton fuhr sie
fort: »Ich habe ihn unten gesucht. Er war nicht da. Ich habe nach ihm gerufen.
Er hat nicht geantwortet. Dann kam ich hierher, und da habe ich ihn gefunden.«
»Wie hast du ihn gesehen? Hattest du
eine Taschenlampe?«
Sie starrte auf ihre leere rechte Hand.
»Das muß ich wohl. Ich kann mich nicht erinnern...«
Ich ließ den Strahl meiner Taschenlampe
über den Boden wandern. Da war eine andere Lampe, ein paar Schritte von Knox’
Leichnam entfernt, und sie schien Dollys Geschichte zu bestätigen. »Du mußt sie
fallen gelassen haben. Woher hattest du sie überhaupt?«
»Von unten? Ja, jetzt erinnere ich
mich. Von unten, wo die Filme gemacht werden sollten.«
»Hat da unten das Licht gebrannt?«
»Ja.«
Knox mußte die Stadtwerke ersucht
haben, den Strom einzuschalten; oder er hatte die ganze Zeit über funktioniert.
»Aber hier oben nicht?«
»Nein.«
»Gut. Bist du nur hier hereingekommen,
weil du Knox’ Wagen gesehen hast — oder warst du mit ihm verabredet?«
»Nein, ich war nicht verabredet. Ich
bin heimgegangen, aber es hatte aufgehört zu regnen, und ich wollte noch ein
bißchen weiter gehen. Also bin ich hierhergekommen, um das Theater anzusehen,
in dem ich ein großer Filmstar werden würde. Er« — sie deutete in die Richtung,
wo der Tote lag — »wollte einen Filmstar aus mir machen. Hier, in diesem
Theater.«
Darauf kannst du wetten, dachte ich.
»Er hat gesagt, er liebt mich. Ich
würde berühmt werden. Er hat mir erzählt, ich wäre schön. Das hat noch niemals
jemand zu mir gesagt.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Aber er hat
Ihnen auch... von uns erzählt.«
Etwas Wundervolles war in Dolly Vangs
Leben geschehen. Oder zumindest hatte sie das geglaubt. Wahrscheinlich war es das
einzig Schöne in einem Leben der Mühe, und jetzt hatte man es ihr nicht nur
genommen, sondern es auch noch beschmutzt. Trotzdem sagte ich nichts, um den
Schlag zu lindern; der Schmerz würde sie vor künftigen Fehlern bewahren.
Ein Teil von mir konnte noch immer
nicht den Verdacht abschütteln, daß sie Knox getötet hatte. Ich sagte: »Du bist
also hineingegangen. Du bist nach unten gegangen, hast Knox gesucht, hast dir
die Taschenlampe genommen und bist hier herauf gekommen?«
»Ja. Er war...« Sie schlug die Hände
vors Gesicht und fing wieder an, auf diese sonderbare, tonlose Art zu weinen.
»Hör auf damit, Dolly«, sagte ich
grober, als es meine Absicht gewesen war. Ich begriff, daß ich wütend war: auf
Dolly, die sich von Menschen wie Otis Knox hatte einwickeln lassen; auf Knox,
der ihr Bedürfnis nach Anerkennung zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt hatte;
auf Knox’ Mörder — mochte es Dolly selbst sein oder jemand anders — , weil er
ihm sein Leben geraubt hatte. Was immer Otis Knox sonst auch noch gewesen sein
mochte, er war ein Mensch gewesen, mit Träumen und Enthusiasmus und Hoffnungen,
wie wir alle sie haben. Niemand hatte das Recht, diesem Leben ein Ende zu
machen, aus welchen Gründen auch immer.
Dolly sah mich mit großen, verletzten
Augen an. Ich entschuldigte mich nicht für meine Schärfe. »Warum bist du nicht
zur Polizei gegangen?« fragte ich.
»Ich...«
»Warum bist du nicht hinausgelaufen und
hast einen der Streifenbeamten angehalten? Oder einen Streifenwagen gestoppt?
Davon gibt es hier in der Gegend genug. Warum bist du ins Restaurant gelaufen?«
»Ich... ich wollte nicht, daß irgend
jemand erfahren würde, daß ich hier gewesen
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