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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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war.«
    »Aber du hättest es deiner Familie
erzählen müssen, wenn ich nicht dort gewesen wäre. Du hättest irgend jemanden
hierherbringen müssen — deinen Vater oder vielleicht deinen Bruder Duc.«
    »Ja, aber das ist Familie. Wenn es
jemand wissen muß, dann sollten es sie sein. Aber ich wollte nicht, daß ein
Außenseiter von meiner Schande erfährt.«
    »Warum hast du dann mich
hierhergebracht?«
    Sie überlegte. »Ich weiß nicht.
Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, daß Sie ein Außenseiter sind. Schon als
Sie das erste .Mal bei uns waren, habe ich gemerkt, daß Sie uns wirklich mögen.
Und Sie sind eine Frau; wahrscheinlich habe ich geglaubt, Sie würden mich
verstehen.«
    Ich fragte mich, ob ihre kleine
Ansprache dazu gedacht war, mein Mitleid für sie noch größer werden zu lassen.
Und dann schämte ich mich auch — aber aus vollkommen anderen Gründen als Dolly.
Ich haßte es, wenn ich vollkommen zynisch und mißtrauisch und kalt wurde. Es
geschah immer öfter, je länger ich in diesem Beruf blieb. Aber das hieß noch
lange nicht, daß es mir gefiel.
    Ich legte wieder meinen Arm um Dolly
und sagte: »Nun, ich fürchte, die Polizei wird es erfahren müssen. Wir müssen
es ihnen auf der Stelle erzählen.« Ich schickte mich an, sie auf die Vorhänge
und die dahinter liegende Bühne zuzuführen, aber sie blieb zurück, den Kopf dem
Toten zugewandt. Wieder durchliefen Schauder ihre zarte Gestalt.
    »Nicht, Dolly«, sagte ich leise. »Laß uns
einfach gehen.«
    »Aber ihn wieder allein lassen... es
ist so dunkel hier.«
    Ja, es war dunkel hier — und auch dort,
wo Otis Knox jetzt war. »Komm schon, Dolly«, sagte ich. »Es gibt nichts, was du
jetzt noch für ihn tun könntest.«
     
     
     

FÜNFZEHNTES
KAPITEL
     
    Sobald ich eine Telefonzelle gefunden
hatte, rief ich Greg Marcus vom Morddezernat an. Er war noch im Amt, und seine
Anwesenheit um diese späte Stunde bedeutete wohl, daß ein anderer Fall zu
bearbeiten war. Einen Moment lang hörte es sich so an, als wollte er Knox’ Tod
jemand anderem übertragen — genau das, was ich nicht wollte. Wenngleich Greg
und ich immer durch die Barriere getrennt sein würden, die daher rührte, daß
wir einmal ein Liebespaar gewesen waren, so war er doch ein guter Polizist, und
ich hoffte, daß er den Fragmenten einer Theorie zuhören würde, die ich langsam
entwickelte.
    Während ich mit Greg telefonierte,
stand Dolly draußen vor der Zelle, eine Hand an die Glastür gepreßt, als hätte
sie Angst, den Kontakt zu mir zu verlieren. Sie starrte die neblige,
bernsteinfarben beleuchtete Market Street entlang zum Theater hinüber, in dem
Knox’ Leiche lag. Dolly war ein weiterer Grund dafür, daß ich Greg hier haben
wollte; er war nicht nur ein guter Polizist, er war auch ein sanfter Mann, und
er würde mit diesem verängstigten Mädchen weit besser umgehen als die meisten
anderen Männer seiner Abteilung.
    Greg ließ mich ein paar Sekunden
warten. Dann meldete er sich wieder und erklärte, ein Polizeiwagen wäre
unterwegs zum Theater; er wollte uns, sobald er konnte, dort treffen, und wir
sollten nichts unternehmen, bis er kam. Ich legte den Hörer auf und öffnete die
Tür. »Dolly, welche Nummer hat das Restaurant eurer Familie?«
    »Das... Nein, Sie dürfen meinen Eltern
nicht sagen — «
    »Ich will ihnen nur sagen, daß es uns
gutgeht.«
    Sie zögerte. Dann erklärte sie: »Die
Nummer ist 525-9177.«
    »Danke.« Ich wählte, und augenblicklich
wurde der Hörer am anderen Ende von Lan Vang abgenommen. Ihre Stimme war hoch
und scharf vor Sorge. Ohne Umschweife erklärte ich ihr, daß bei uns alles in
Ordnung wäre und wir innerhalb der nächsten Stunde ins Hotel zurückkehren
würden. Dann bat ich darum, mit Carolyn sprechen zu dürfen. Ihr erklärte ich
ein bißchen mehr — daß ein Freund von Dolly bei einem Unfall ums Leben gekommen
wäre und wir jetzt auf die Polizei warteten. Ich erkundigte mich, ob Carolyn
mit den Vangs ins Hotel zurückkehren und dort bleiben könnte, bis wir kamen.
Obwohl ich wußte, daß sie inzwischen todmüde sein mußte, willigte Carolyn ohne
Zögern ein.
    Als ich aus der Telefonzelle trat,
wandte Dolly sich mir zu und schaute mich fragend an. »Alles in Ordnung,« sagte
ich. »Ich habe ihnen nicht mehr erzählt als unbedingt nötig.« Nach einer kurzen
Pause fügte ich noch hinzu: »Du mußt natürlich alles erklären. Sie müssen es
erfahren.«
    Sie schaute fort, zu einem verdunkelten
und vergitterten Geschäft hinüber.

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