Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
die Unverfrorenheit, so etwas in einem fremden Haus zu rauchen?
Ihm war es, als hätte nun ein Mann gelacht. Riesige, graue Bilder, die nie deutlich genug wurden, um ein vertrautes Gesicht zu erkennen, nahmen Fritz die Sicht. Trotzdem starrte er weiter nach unten, er wusste nicht, wonach er suchte, auf wen er wartete, er wusste nur, dass es nicht gut war, sich zu rühren. Sich zu bewegen brachte immer Gefahr. Er staunte, als hätte er ihn noch nie gesehen, dass der Steinfußboden vor der Tür so hell war, dass winzige schwarze Punkte aufleuchteten, wenn sie von einem Sonnenstrahl erwischt wurden. Er konnte den Porzellanschirm der weißen Küchenlampe sehen, die erst seit einer Woche im Hausflur hing, und die Tafel mit der Hausordnung aus den Zwanzigerjahren. Sie hing in einem mit schwarzem Isolierband reparierten Rahmen direkt neben dem Fenster, das letzte Relikt aus der bürgerlichen, geordneten, überschaubare Zeit. Mit einem Mal – im ersten Augenblick hielt er seine Wahrnehmung für ein Trugbild – entdeckte Fritz eine riesengroße, prall gepackte Reisetasche aus grünem Leinen. »Froschgrün«, murmelte er; verblüfft wiederholte er das Wort. Seiner Lebtag hatte er nichts als froschgrün bezeichnet. »Noch nicht einmal einen Frosch«, sagte er und starrte, den Kopf auf das Treppengeländer gestützt, die Tasche an.
Sie lag auf dem breiten, soeben erst lackierten Fensterbrett oberhalb der Parterrewohnung und war mit einer kräftigen roten Schnur umwickelt. Schon das Gepäckstück erschien Fritz ungewöhnlich, noch mehr beschäftigte ihn die rote Schnur. Wer in Trümmerdeutschland an so eine feste Schnur kommen wollte, lief sich trotz Währungsreform und der neuen, harten D-Mark die Hacken wund. Die Leute erzählten sich immer noch den Witz von dem Nazibonzen, dem es nicht gelungen war, sich rechtzeitig dem Urteilsspruch der Spruchkammer zu entziehen. Dreimal war ihm das Seil gerissen, mit dem er sich aufhängen wollte, und seine Frau hatte seine Pistole gegen Speck eingetauscht.
Schon verstand Fritz seine Erregung nicht mehr, nicht sein Zaudern und schon gar nicht die Angstfantasien. Der Mann des Muts hob den Kopf und straffte seine Schultern. Es war höchste Zeit, den Leuten, die in Hausfluren herumlungerten, in die sie nicht gehörten, und die aus respektablen Männern Tölpel machten, zu zeigen, wer Herr im Hause war. Weshalb nur war ihm das Selbstverständliche so schwer gefallen? »Ich bin gleich da«, rief er.
Am Fuß der Treppe standen drei weitere Koffer, alle im gleichen lehmbraunen Ton und augenscheinlich weit gereist. Sie waren an den Ecken abgestoßen und aus Fiberglas. Trotz der vielen weißen Kreidemarkierungen und nicht zu deutenden Buchstabenkombinationen fielen Fritz die vielen bunten Aufkleber auf. Solche Aufkleber waren ursprünglich nur für das Gepäck der feinen Leuten gedacht gewesen. Die reisten mit Schrankkoffern, tropentauglichen Metallkisten und Hutschachteln aus Lackleder, auf denen die Aufkleber von internationalen Hotels und Luxusdampfern von Wohlstand, Prestige und Abenteuerlust zeugten. Die Reichen gingen auf Reisen, weil sie wollten, und nicht, weil sie auswandern mussten, sie lagen in Liegestühlen auf Deck und schlürften zwischen Frühstück und Mittagsdiner heiße Fleischbrühe. Wenn das Schiff ablegte, spielte die Kappelle »Muss I denn zum Städtele hinaus?«, und wann immer sie wollten, konnten sie zurück nach Hause.
Auf der Hochzeitsreise hatten die Aufkleber Victoria mehr begeistert als Italiens Sehenswürdigkeiten. Kein Koffer durfte ausgelassen werden, alle – von den Geschwistern bis zum Küchenpersonal, die Busenfreundinnen und der Taxifahrer, der das junge Ehepaar vom Frankfurter Hauptbahnhof ins neue Heim in der Günthersburgallee gefahren hatte – hatten sehen sollen, wo Rechtsanwalt Dr. Friedrich Feuereisen und seine schöne junge Gattin gewesen waren.
Ob Vicky in Theresienstadt mit dem Koffer angekommen war, auf dem der Markusplatz in Venedig klebte? Oder war die schwarze Hutschachtel mit dem Aufkleber vom romantischen »Hotel Elephant« in Brixen mitgenommen worden, als Victoria Feuereisen, geborene Sternberg, aus ihrer Heimatstadt getrieben worden war? Fritz musste sich am Geländer festgehalten. Ihm brannten Kopf und Herz. Welch eine ketzerische, unglaubliche, blasphemische Frage! Ließ Gott, wenn es ihn gab, einen Mann an seiner Scham ersticken?
Auf dem größten Koffer lag eine marineblaue Männermütze, auf dem zweiten ein cremefarbener Damenhut
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