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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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mit breitem Rand und einem schwarzen Band. Ein weißer Plüschbär in einer roten Hose thronte auf dem kleinsten Koffer. Der Anblick des Bären mit erhobenen Armen und einer gehäkelten grünen Mütze, die zwei Löcher für seine großen Bärenohren hatte, beruhigte Fritz. Trotzdem wurden seine Augen feucht. Der unschuldsweiße Teddy mit dem gutmütigen Gesicht und einer blauweißgestreiften Schleife um den Hals erinnerte ihn an den Bärenkumpel seiner eigenen Kindertage. Franz hatte er geheißen. Fritz und Franz, die Unzertrennlichen. Seine Mutter hatte immer »Franz, die Kanaille« gesagt, wenn sie den Bären abends zum Sohn ins Bett legte. Der Sohn hatte sie Abend für Abend gefragt, was das Wort bedeutete, und stets hatte er, wie es damals Brauch war in deutschen Kinderzimmern, zu hören bekommen: »Das verstehst du noch nicht.«
    »Hallo, du«, sagte Fritz. Er stand nun zwischen dem ersten Stock und der Parterrewohnung und fand es kein bisschen seltsam, sich über das Geländer zu lehnen und einen ausgestopften Bären zu begrüßen. Er winkte ihm gar zu, allerdings mit Absicht, denn nur so gewann er einen Herzschlag lang die Zeit, die er brauchte, um noch einmal nach unten zu schauen, zu lauschen, eventuell das Rätsel zu lösen, ehe er die sah, die es gestellt hatten.
    Was trieb wohl Leute dazu, an einem Sonntagmorgen zu schellen und sich nicht zu melden? Merkten die da unten denn auch jetzt nicht, dass er, Fritz Feuereisen, der Schwiegersohn der Hausbesitzerin, von oben herunterkam? Auf Holztreppen war doch jeder Schritt zu hören. Wollten diese erbärmlichen Störenfriede denn nur provozieren – wie damals, aus Sadismus und Menschenverachtung provozieren? Und quälen. »Los, Itzhak, mach deinem Namen mal Ehre. Zeig was du kannst! Hol dein Eisen aus der Hose, Wasser marsch!« Wer hatte das gesagt, wann und wo? Jedenfalls hatte einer von den Vandalen genau das gesagt, nein, gebrüllt hatte der Kerl. Gebrüllt wie ein Stier. Ob es denn in Deutschland überhaupt Leute gab, die sich erinnerten, mit welcher Teufelslust sie damals Menschen zu Tode geängstigt, sie die Treppen heruntergestoßen und auf der Straße zusammengetreten hatten! Oder erzählten sie nun ihren Kindern von Rommels Tapferkeit und der eigenen, sangen sie sonntags mit den Kleinen fromme Lieder, und brachten sie ihnen bei, nicht auf Gänseblümchen zu treten? »Schellenklopper«, redete Fritz sich beruhigend zu, »nichts als verdammte Schellenklopper.« Er wunderte sich, dass er das Wort seiner Schülertage noch kannte. »Wenn du beim Schellenkloppen erwischt wirst«, sagte seine Mutter, »isst du eine Woche Rhabarberkompott, mein Sohn, und gehst um sieben ins Bett.«
    Erst als er auf der letzten Treppenstufe stand, sah Fritz die Frau, die ein Kind hielt. Diesmal waren es spontane Männerfantasien, Begierde und Sehnsucht, die die Bilder malten. Die junge Frau war groß und ungewöhnlich schlank, ihr Gesicht war blass wie das einer Porzellanpuppe aus dem Biedermeier. War diese Schönheit eine Fee aus Shakespeares Sommerwald, hieß sie Titania, und holte sie blumenumkränzte Menschenkinder auf ihr Bett aus Moos? Auf dem weiten Rock der Fremden wucherten rote Rosen, ihre langärmelige Bluse war aus schwarzer Spitze, in ihrem langen dunklen Haar steckte ein silberner Kamm mit blaugrün leuchtenden Steinen. Fritz stand mit offenem Mund vor der Sommerkönigin aus Nirgendwo; er wollte sie willkommen heißen, ihr sagen, dass er Kinder liebte und Mütter aus fernen Feenländern erst recht, aber die Worte blieben in seiner Kehle stecken, sein Lächeln erstarb, ehe sie es sah.
    Das Kind, ein Mädchen von etwa zweieinhalb Jahren und ebenso dunkelhaarig wie die Frau, war bestimmt ihre Tochter – die Kleine hatte die gleiche Kopfhaltung, die gleichen großen schwarzen Augen und – das fiel Fritz sofort auf – die gleichen hohen Wangenknochen. Obwohl noch Tränentropfen an den Wimpern klebten, wirkte das Mädchen zufrieden und kinderfröhlich. Offenbar war die Tochter auch ein Sommerkind, ihr zitronengelbes Baumwollkleid mit einem blauen Gürtel, das weiße Hütchen und die Kette aus bunten Muscheln um den Hals erzählten Geschichten von Sonne, Meer und Sand. Das zierliche Mädchen erinnerte Fritz an Murillos Trauben essende Knaben. Der Schmerz traf ihn unvermittelt, er duckte sich weg, schützte einen Moment die Augen, suchte nach Entkommen für sein Gedächtnis. Sein Leben lang hatte er Murillos geliebtes Meisterstück im Original sehen wollen, doch für

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