Neubeginn in Virgin River
Krankenhaus auf Posten. Jetzt aber war sie ganz auf sich gestellt. Welche Alternativen hatte sie denn, wenn eine Frau irgendwo in der Wildnis ein Kind bekam und sie die einzige Hebamme weit und breit war?
Mel wurde Angst und Bange. Was, wenn sie zu spät kamen und irgendetwas nicht in Ordnung war? Was, wenn irgendetwas schieflief?
Sie wusste nicht, wie lange sie gefahren waren – auf jeden Fall länger als fünfundvierzig Minuten, als der Mann plötzlich links in einen einspurigen Waldweg einbog, der scheinbar eine Sackgasse war. Als es nicht mehr weiterging, stieg er aus und schob ein Tor auf, das komplett von Büschen überwuchert war. Sie fuhren einen holprigen, von dichten Bäumen überschatteten Weg voller Schlaglöcher entlang, bis Mel im Schweinwerferlicht ein kleines Gebäude und einen noch kleineren Wohnwagen erkennen konnte. Im Innern des Wohnwagens brannte Licht.
„Hier ist es. Sie ist dort drin“, sagte er und zeigte auf den Wohnwagen.
In dem Moment begriff sie und wunderte sich: Warum fiel es ihr erst jetzt wie Schuppen von den Augen? Sie, die in der Lage war, sich kritisch über die Härten der Großstadtmedizin zu äußern, hatte sich von der schönen Landschaft und dem, was sie für das idyllische Landleben gehalten hatte, völlig blenden lassen. Haus und Wohnwagen waren unter den Bäumen versteckt, von hohen Kiefern getarnt, und zwischen Haus und Wohnwagen stand ein Generator. Deshalb also musste alles so geheim bleiben, deshalb brauchte er eine Waffe zum Schutz. Er baute Drogen an. Und deshalb hatte er auch jemanden angeheuert, der wegen irgendwelcher Straftaten von der Polizei gesucht wurde; denn jemand, der Angst davor hatte, ins Gefängnis zu kommen, konnte leicht dazu überredet werden, sich im Wald zu verstecken und einen Anbau wie diesen hier zu überwachen.
„Ist sie allein dort drin?“, fragte Mel.
„Ja“, antwortete er.
„Dann brauche ich Ihre Hilfe. Sie müssen mir ein paar Dinge besorgen.“
„Ich möchte mich in keiner Weise …“
„Wenn wir die Lage in den Griff bekommen wollen, tun Sie besser einfach das, was ich sage“, unterbrach sie ihn, und ihre Stimme klang autoritärer, als sie es wollte. Sie lief zum Wohnwagen, stieg ein paar Stufen hinauf, öffnete die Tür und trat ein. Mit fünf Schritten hatte sie eine Kombüse durchquert und gelangte zu einer Art Schlafkoje, wo sich eine junge Frau unter einem mit Blut und Schweiß beschmutzten Betttuch krümmte.
Mel riss sich die Jacke von den Schultern, ließ sie auf den Boden fallen und öffnete ihre Tasche. In Sekundenschnelle war eine Veränderung in ihr vorgegangen. Eben noch ängstlich und unsicher, war sie nun engagiert und hochkonzentriert. Souverän. „Immer ganz ruhig“, sagte sie sanft. „Wir wollen mal sehen.“ Und über die Schulter zurück sagte sie bestimmt: „Ich brauche einen großen leeren Topf oder eine Schüssel, ein paar Handtücher und Decken – so weich wie möglich. Für das Baby. Dann einen Topf mit warmem Wasser für die Reinigung. Ah …“, sagte sie und hob das Laken. „In Ordnung, Schätzchen, du musst mir helfen. Hechel mal so wie ich.“ Und während sie sich die sterilen Handschuhe überstreifte, demonstrierte sie ihre Anweisung. „Nichts forcieren. Leichter!“, rief sie.
Der Kopf des Kindes wurde schon sichtbar; fünf Minuten später, und Mel hätte nichts mehr tun können. Sie hörte, wie der Mann sich hinter ihr zu schaffen machte, und plötzlich tauchte neben ihrer Tasche ein Topf auf. Dann folgten zwei Handtücher, und ein Deckenlicht wurde angeschaltet. Schnell notierte Mel sich in Gedanken, den Dingen in ihrer Hebammentasche eine Taschenlampe hinzuzufügen.
Die Frau ächzte erschöpft, und der Kopf des Babys kam heraus. „Hecheln“, wies Mel sie an. „Jetzt nicht pressen – wir haben ein Problem mit der Nabelschnur. Ganz ruhig, ganz ruhig …“ Vorsichtig zog sie an der seilartigen, leicht violetten Schnur, die um seinen Hals lag, und befreite das Kind. Noch keine fünf Minuten befand sie sich jetzt in dem Wohnwagen, aber es waren die kritischsten Minuten im Leben dieses Kindes. Mit einem behandschuhten Finger befreite sie das Baby aus dem Geburtskanal und zog es vorsichtig zu sich heraus. Das Schreien füllte bereits den Raum, bevor das Kind noch vollständig geboren war. Es war das gesunde, kräftige Schreien eines Neugeborenen. Erleichtert atmete Mel auf. Es war ein kräftiges Kind, das nicht einmal abgesaugt werden musste.
„Sie haben einen Sohn“, sagte
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