Neubeginn in Virgin River
drückte auf ihren Bauch, während sie versuchte, mit den Fingern den Muttermund der jungen Frau zu ertasten. „Und … Sie sind ungefähr fifty-fifty aufgeweitet und verschlossen. Sie werden jetzt eine kleine Wehe spüren. Merken Sie, wie es sich zusammenzieht? Man nennt es die „Braxton-Hicks-Wehe.“ Sie lächelte ihre Patientin an. „Wo werden Sie entbinden?“
„Hier, denke ich.“
Mel lachte. „Wenn Sie das bald vorhaben, dann werden Sie meine Zimmergenossin. Ich wohne oben.“
„Wann, glauben Sie, ist es so weit?“, fragte Polly „In ein bis vier Wochen. Aber das kann ich nur vermuten“, antwortete Mel. Dann trat sie zurück und streifte ihre Handschuhe ab.
„Werden Sie das Baby holen?“, wollte Polly wissen.
„Ich möchte ehrlich mit Ihnen sein, Polly Ich habe vor, sobald ich kann, von hier wegzugehen. Aber falls ich noch hier bin, wenn Ihre Wehen einsetzen, und Doc damit einverstanden ist, dann würde ich das sehr gerne tun.“ Sie streckte eine Hand aus, um Polly aufzuhelfen. „Ziehen Sie sich wieder an. Ich warte am Empfang auf Sie.“
Als Mel aus dem Untersuchungszimmer kam und wieder nach vorne ging, stellte sie fest, dass das Wartezimmer inzwischen voll war.
Und am Ende des Tages hatte sie dann über dreißig Patienten empfangen, von denen allerdings achtundzwanzig nur gekommen waren, um die „neue Ärztin“ kennenzulernen. Sie wollten nur einmal vorbeischauen, sie ein wenig ausfragen und ihr ein paar Willkommensgeschenke bringen.
Das war für Mel zugleich eine große Überraschung, aber auch das, was sie sich insgeheim erhofft hatte, als sie den Job annahm.
Gegen sechs war Mel völlig erschöpft, aber der Tag war wie im Flug vergangen. Sie hielt das Baby gegen die Schulter gepresst und klopfte ihm zärtlich den Rücken. „Haben Sie schon gegessen?“, fragte sie Doc Mullins.
„Wann hätte ich wohl an Tagen mit offener Sprechstunde schon einmal Zeit zum Essen gehabt?“, knurrte er. Aber es klingt schon längst nicht mehr so sarkastisch, wie er es vermutlich beabsichtigt hat, dachte Mel.
„Wollen Sie rüber zu Jack, während ich das Baby füttere?“, fragte sie ihn. „Denn wenn Sie und die kleine Chloe gegessen haben, würde ich gerne etwas an die frische Luft gehen. Oder sagen wir lieber: Ich muss dringend einmal hier raus und etwas anderes sehen. Seit dem Frühstück habe ich auch noch nichts gegessen.“
Er streckte seine alten, arthritischen Hände aus und fragte: „Chloe?“
Sie zuckte nur die Schultern und sagte: „Irgendeinen Namen braucht sie ja wohl.“
„Gehen Sie“, forderte er sie auf. „Ich werde ihr die Flasche geben und mir dann hier irgendetwas zurechtbrutzeln.“
Mit einem Lächeln reichte sie ihm das Kind. „Ich weiß, Sie versuchen immer, schlecht zu sein, und kriegen es nie so ganz hin“, sagte sie. „Aber danke, ich möchte wirklich gerne einmal für eine Stunde von hier verschwinden.“
Sie nahm ihre Jacke vom Kleiderhaken beim Eingang und trat in die Frühlingsnacht hinaus. Und draußen, weit weg von all dem Smog und der Geschäftigkeit des Stadtlebens, gab es mindestens eine Million mehr Sterne. Sie atmete tief durch und fragte sich, ob man sich wohl an eine Luft wie diese hier gewöhnen könnte – so sauber, dass die Lungen geradezu einen Schreck bekamen.
Anders als in der stürmischen Nacht ihrer Ankunft war Jacks Bar heute recht belebt. Zwei Frauen, denen sie tagsüber schon in der Praxis begegnet war, saßen dort mit ihren Ehemännern. Es waren Connie und Ron, die den Laden an der Ecke hatten, und Connies beste Freundin Joy mit ihrem Mann Bruce. Mel erfuhr, dass Bruce die Post auslieferte und auch derjenige war, der notfalls Proben zur Untersuchung ins Labor des Valley Hospitals bringen würde. Durch sie wurde sie dann Carrie und Fish Bristol und Doug und Sue Carpenter vorgestellt. An der Bar standen ein paar Männer, und an einem Tisch saßen zwei weitere, die Kribbage spielten. Sie trugen Segeltuch-Westen, daher hielt Mel sie für Angler.
Sie hängte ihre Jacke auf, zog kurz ihren Pullover über den Bund ihrer Jeans hinunter und setzte sich auf einen der Hocker an die Bar. Ohne dass sie davon wusste, hatte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausgebreitet. Und ihre Augen leuchteten. Heute waren alle nur gekommen, um sie kennenzulernen und willkommen zu heißen, um ihr von sich zu erzählen und sie um ihren Rat zu bitten. Ein Tag voller Menschen, die sie brauchten, auch dann, wenn sie nicht unbedingt krank waren, gab ihr eine
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