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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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und die Bürger nichts mehr, die Wirtschaft und der Konsument dagegen alles seien, wenn man für Kindergärten und Universitäten, ja wahrscheinlich auch noch fürs Sterben werde bezahlen müssen.
    Roland scheut vor keiner Übertreibung zurück. Eigentlich wünscht er sich jene Verhältnisse zurück, in denen es unmöglich war, den Kapitalismus kennenzulernen.
    Der Mann von Ilona, ein ehemaliger Genosse, kam selig aus Bayreuth zurück, weil er dort schnell und problemlos eine Hose für sich gefunden hatte, die ihm paßte, ohne daß sich Ilona wieder ans Kürzen machen mußte. Die tröstliche Bestätigung, offensichtlich doch keine abnorme Figur zu haben, hat ihn bekehrt. Man kann das lächerlich finden, und ich habe auch nicht gewagt, gegenüber Roland davon zu sprechen, aber ich verstehe Ilonas Mann, ich glaube ihm sein Glück, ein Glück, das Roland nur als Zeichen von Verblendung und Verführbarkeit schmähen kann.
    Ist es nicht ein Verbrechen zu sagen: Ihr dürft das Mittelmeer nicht sehen, oder erst, wenn ihr alt und grau seid und nicht mehr arbeiten könnt? Ach, Schluß damit! Ich bin schon wie Michaela, die sich immer mal wieder an der Vorstellung berauscht, ihren früheren Lehrern und Professoren zu begegnen und sie zur Rede zu stellen. Als hätte sie nicht schon im Theater die Erfahrunggemacht, wie sinnlos das ist, sinnlos, weil man Scham und Reue nicht einfordern kann.
    Natürlich bewundere ich Roland auch. Schon allein seine Vitalität, seine Lust zu reden, sich zu streiten, seine Extravaganz (damit meine ich nicht nur Gürtel, Hüftschwung und Seidentuch). Er ist ein brillanter Logiker ohne Angst vor Konsequenzen, ja, ich bewundere seinen Mut, aber es ist eine verderbliche Logik, um nicht zu sagen: eine mörderische.
    Ich habe ihm von Mamus’ Verhaftung erzählt und davon, was in Dresden letzten Herbst passiert ist. Ich ärgerte mich, schon während ich sprach, über mich selbst, weil ich die Verhaftung als Argument benutzte, weil es plötzlich so eitel klang. Wenigstens hat er nicht versucht, Rechtfertigungen dafür zu suchen oder es gar anzuzweifeln. Er hat seinen Abscheu ausgedrückt, sich dann aber nicht enthalten können, mir zu raten, Dich nach Schatila und Badra 175 zu fragen, danach, was in Griechenland oder Spanien, in Argentinien und Uruguay 176 passiert sei. Und dann kamen sie wieder, die abgehackten Hände von Victor Jara. 177
    Warum will er nicht in einer Welt leben, die halbwegs angenehm ist, warum immer kämpfen, leiden, sterben? Du, mein Heinrich, wirst Du sagen, müßtest es doch selbst am besten wissen? Weil es Leuten wie Roland nicht darum geht, in einer schönen Welt zu leben, sondern produktiv zu bleiben. Dafür nehmen sie alles in Kauf, Revolution, Chaos, Tod. Deshalb muß Rolandauch im 9. November ein Werk der Konterrevolution sehen. Wie sollte er sonst weiterschreiben? Nun können sie wieder ihre Budjonny-Mützen 178 aufsetzen. Man denkt, Leute wie Roland müßten unendlich verzweifelt sein, weil die Geschichte sie um hundert Jahre zurückgeschleudert hat, weil ihr ganzes proletarisches Tschingderassa, all die Millionen Opfer, die sie anklagend auf ihren Fahnen trugen, nun genauso sinnlos werden wie jene Millionen Opfer, die im Namen ihrer eigenen Götzen gemordet worden sind. Aber so ist es nicht. Seine Augen leuchten heller denn je. Sind sie Narren? Wirrköpfe? Egal was mit der Welt geschieht – an ihrer göttlichen Mission halten sie fest. Verzeih, ich wiederhole mich. Roland und seine Genossen sind einfach lästig. Ja, ich empfinde größte Genugtuung, daß ihnen nun kurzerhand der Hahn abgedreht wird und sie sich, wie alle anderen, nach einer Arbeit umsehen müssen. Wir grüßen die Genossen der Deutschen Kommunistischen Partei ein letztes Mal! Nur nicht zuviel Ärger, nur nicht zuviel Kraft und Gefühl an sie verschwenden. Alles, was sich auf sie bezieht, selbst wenn man ihnen vor die Füße spuckt, deuten sie als Zeichen der Aufmerksamkeit. Roland hat vollkommen recht, wenn er in mir einen Reaktionär sieht. Ist es nicht herrlich, sich ans Faktische zu halten, zu schweigen, zu lächeln?
    Wieviel weiß er denn über uns?
    In Liebe, Dein H.
     
    PS : Mit Deinem Freund Barrista hat er sich komischerweise bestens verstanden; Barrista nennt Lenin und Luxemburg Terroristen, für Roland sind sie Revolutionäre. Aber in ihren »Analysen«waren sich Roland und Barrista einig und gaben die Schuld am Übel der Welt den deutschen Reaktionären, die sich immer erst selbst das

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