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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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vorangehen. Ich war von mir selbst beeindruckt. Sein Manuskript ließ ich unerwähnt.
    Am Mittwoch um zwölf, ich hatte meine Mutter anrufen müssen, erfuhr ich, daß die Vergrößerung meines Herzens keine krankhafte war, im Gegenteil, ich besaß ein Sportlerherz. Im selben Moment erloschen Luzidität und Einsicht. Ja, ich ärgerte mich, durch die ganze Aufregung Zeit verloren zu haben, und spürte, wie die alte Kleinlichkeit durch jede Pore zurückkroch. Doch für Augenblicke hatte ich eine seltsame Klarheit erlebt. Und alles, was ich jetzt darüber schreibe, ist nicht mal ein Abglanz davon.

 
     
    Mittwoch, 18. 4. 90
     
    Da ich zwei Monate lang beinah täglich über den Tag meiner Einberufung geschrieben hatte, war mir der vierte November vertraut wie ein lang erwarteter Brieffreund, dessen Besuch ich mitNeugier entgegensah. Allerdings blieb dann kaum Zeit, meine Vorstellung mit der Wirklichkeit zu vergleichen.
    Ich hatte erwartungsgemäß schlecht geschlafen, das Verhalten meiner Mutter jedoch ähnelte nur entfernt der Beschreibung. Wir gossen viel Milch in den Kaffee, um ihn schneller trinken zu können, und schwiegen. Mich ärgerte, daß sie viel zu früh zum Aufbruch drängte, erst beim Abschied waren ihre Augen etwas feucht.
    »Morgen«, zitierte ich aus dem Manuskript, »ist alles nur noch halb so schlimm« (der erste Tag sollte in meinem Roman nicht schlimm werden, jedoch alle folgenden). Meine Mutter umarmte mich und küßte mir zum Abschied die Stirn, was ich als überaus ausdrucksstark empfand. Ich beschloß sofort, diese Geste in meine Abschiedsszene aufzunehmen.
    Der Weg in den großen, etwas zurückgelegenen Mitroparaum des Neustädter Bahnhofs, wo wir uns einzufinden hatten, erinnerte mich an die Abende, da wir auf die Rückkehr der Großeltern aus dem Westen gewartet hatten.
    Ganz gegenwärtig stand plötzlich unser Nachbar, Herr Kaspareck, vor mir. Offenbar führte Herr Kaspareck hier als Offizier die Oberaufsicht und patrouillierte zwischen den Stühlen. Ständig stieß er an schwarze Taschen, die ihm aus dem Weg geräumt werden mußten. Trotz unserer Zivilkleidung waren wir bereits seine Gefangenen.
    Als Sensation empfand ich die Pistole an Kasparecks Koppel. Vor Jahren war er einmal hinter mir hergerannt, weil wir sonntags vor seinen Fenstern Fußball gespielt hatten. Nun konnte er sich an mir rächen.
    Herr Kaspareck erhielt von mir die Rolle eines Vorboten des Bösen. Er hatte mich nicht gegrüßt, er war über die ausgestreckten Beine eines Schlafenden gestolpert und hatte diesen mit einem gut gezielten Schlag in die Waden fast vom Stuhl gerissen.
    Hier war jede Beobachtung brauchbar, Material für die Verbesserung meines Entwurfs.
    Ein Streifenkommando, dessen weiße Lackgürtel und -riemen dem Zaumzeug von Zirkuspferden ähnelten, ein Vergleich, der mir in Erinnerung an die »Farm der Tiere« gefiel, schleppte einen Betrunkenen herbei – einen Verzweifelten, der den Namen seiner Frau schluchzte. Oder rief er nach seiner Mutter? Hunden gleich, die einen Knüppel apportieren, ließen sie ihn zwischen die Stühle fallen. Wimmernd blieb er liegen. Zwei der Streifensoldaten zogen ihn an den Schultern hüfthoch – wollten sie sein Gesicht sehen? –, zerrten ihn etwas weiter nach rechts, zählten unhörbar bis drei und ließen ihn fallen. Sie hatten gut gezielt. An der Stuhlkante schlug er sich die Vorderzähne aus. Sogleich rissen sie ihn wieder vom Boden und begutachteten ihr Werk. Einer rief, da sei ihnen wohl ein kleiner Dracula ins Netz gegangen. Die vier anderen feixten. Die Stille in dem Mitropasaal war undurchdringlich. So wie alle Einberufenen nach Kasparecks Attacke die Beine ausgestreckt hatten, so daß er nun wie ein Storch durchs Unterholz stakste, so eng zog sich jetzt das Schweigen um die Verräter zusammen und würde sie erstickt haben …
    Derartiges entstand in meinem Kopf wie von selbst, als hätte ich endlich die Stange gefunden, an der sich meine Phantasie emporranken konnte. Aber Sie wissen ja: Die Erfindungen sind nie brutal und perfid genug, die Übertreibung liegt allemal in der Realität, und irgendwo, da war und bin ich mir sicher, hatte sich diese oder eine ähnliche Szene zugetragen.
    Sie sehen, ich fühlte mich vom ersten Augenblick an am richtigen Ort. Hier gab es genau jene Dosis Härte und Notwendigkeit, die mir bisher gefehlt hatte.
    Während wir die Treppen zum Bahnsteig hinaufgetrieben wurden, bewacht wie Sträflinge, lauschte ich den Befehlen, die es nach

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