Neue Leben: Roman (German Edition)
schlurfte in Unterhemd und heruntergetretenen Turnschuhen umher und brachte seine Kalaschnikow in die Waffenkammer zurück wie einen Spaten in den Schuppen.
In dieser Nacht zirpte eine Grille. Anfangs hielt ich das Zirpen für eine Halluzination oder eine Störung im Radio. Vielleicht war die Grille, angelockt von der Stille, aus dem Heizungskeller heraufgekommen und hatte unter unseren Spinden Quartier genommen.
Keinen der über zweihundert Armeebriefe an Geronimo habe ich je wieder gelesen. Ob diese mir helfen könnten, Ihnen jene Tage genauer zu beschreiben, als ich es hier vermag, sei dahingestellt. Wichtiger erscheint mir die Feststellung, daß über der Erinnerung an diese Wochen ein Schleier des Ungefähren liegt.
So wie das Kriegsrecht in Polen meinem Unbehagen vor dem Weckpfiff post festum eine Begründung lieferte, die jenseits von persönlicher Empfindlichkeit lag, so nehme ich das, was mir zu Weihnachten widerfuhr, als Beweis dafür, daß meine merkwürdigeStimmung in den anderthalb Wochen zuvor mehr gewesen war als eine Laune.
Am vierzehnten Dezember, dem Tag nach dem großen Alarm, zerbrach meine Idylle. Ich schlief über Knut, unserem Fahrer und Stubenältesten, einem auffällig kleinen, aber kräftigen Mann, Gewichtheber in einer der leichten Klassen. Seine Freundin hatte ihn kurz nach seiner Einberufung verlassen, was ihn nicht daran hinderte, ständig von ihr zu schwärmen. Weder schrieb noch erhielt Knut Briefe, einmal im Monat kam von seiner Mutter ein Päckchen.
Es war halb elf, also nach Beginn der Nachtruhe. Gunther und Matthias, ein säbelbeiniger gutmütiger Fischkopp 181 , unterhielten sich darüber, was man essen, überhaupt, was man tun müsse, um möglichst schnell krank zu werden und ins Lazarett zu kommen. Sowenig ich selbst von ihrem Wissen Gebrauch gemacht hätte, so passend erschien mir ihr Gespräch. Dialoge waren, wie gesagt, meine Schwäche. Ich schrieb mit. Das Licht war noch an und Knut nicht im Zimmer. Im Bett zu schreiben bedeutete, daß ich morgens, in den drei Minuten, die zum Anziehen und Heraustreten blieben, die Blätter ins Kuvert stecken, dieses beschriften und frankieren mußte, alles in der Hoffnung, wir kämen während des Frühsports am Briefkasten vorbei, wo ich ausscheren und meinen unter der Trainingsjacke verborgenen Kassiber einwerfen konnte.
Knut liebte es, auf die Klinke zu hauen und der Tür einen Tritt zu geben, so daß sie aufflog und gegen die Wand krachte. Das war lästig, doch wer sollte ihn daran hindern. Auch diesmal spielte Knut wieder Major, sah mich über seine Brille hinweg an und knipste das Licht aus. Ich hatte nichts anderes erwartet, schrieb den Satz blind zu Ende und roch Knuts Fahne, währender sich auszog. Er warf sich hin und her, das Bettgestell wackelte und quietschte, dann war es still, als habe er seine Schlafposition gefunden. Ich schrieb gerade den Gruß, da wurde ich emporgeschleudert, einmal, zweimal. Stößt jemand von unten mit beiden Füßen gegen die Matratze, ist man oben wehrlos wie ein Käfer auf dem Rücken. Ich klammerte mich ans Bettgestell. Als es wieder ruhig war, beugte ich mich hinunter, rief irgendein Schimpfwort – da trat er erneut zu. Diesmal verlor ich das Gleichgewicht. Mir passierte nichts, es war beinah wie ein Abgang vom Barren, und die Bettdecke, die zuvor heruntergefallen war, dämpfte meine Landung. Wütend trat ich nach Knut.
Schreiend standen wir uns im Dunkeln gegenüber. Ein paarmal traf er mich. Als das Licht anging, hielt auch er sich die Seite. Ich hatte ein Sakrileg begangen. Das wußte ich.
Als ich am nächsten Morgen meinen Brief zusammenfaltete, fehlte ein Blatt. Obwohl ich diesem Verlust bald keine Bedeutung mehr beimaß, geriet ich in einen merkwürdigen Zustand. Alles Eigene, der Schweiß meiner Achselhöhlen und zwischen den Beinen, der Geruch meiner Socken oder der Fleck auf meiner Uniform, alles erschien mir auf einmal kostbar, weil zu mir gehörig. Ich wollte mich in meinem Körper verstecken, ich war dabei, mich zu verpuppen.
In dem Brief, den ich noch von meiner Mutter erhalten hatte – vor Weihnachten gab es eine Postsperre –, war sie wie verwandelt. Ich hatte nichts von dem Alarm geschrieben, sie aber fühlte sich schuldig und quälte sich mit Vorwürfen. Ohne ihre Intervention, glaubte sie, hätte ich den Wehrdienst verweigert, was nach dem 13. Dezember keine Dummheit, kein falsches Heldentum mehr war, sondern vielleicht die einzige Chance, sich zu retten. Sie, die doch
Weitere Kostenlose Bücher