Neue Leben: Roman (German Edition)
um nach verborgenen Schätzen zu schürfen.
Beim Mittagessen, ich verschlang die Königsberger Klopse mit Appetit, erhob sich aus unserer langen Tischreihe ein vierschrötiger Kerl und rief, daß er diesen Fraß nur deshalb runterwürge, weil es überhaupt das erste sei, was es hier zu fressen gebe. Morgen werde er ihm, dem am Tischende wartenden Spieß, diesen Fraß um die Ohren hauen.
Ich drückte meine letzte Kartoffel in die Soße und war begeistert. Soeben hatte sich mir meine erste Figur gezeigt, Thersites und Ajax 173 zugleich. Ich wollte ihn nicht mehr aus den Augen lassen.
Am Nachmittag, als wir die Pakete mit unserer eigenen Kleidungverpackten, legte ich zu den klammen Sachen und dem Gruß an meine Mutter noch ein Kuvert mit der Anschrift von Geronimo. Darin befanden sich drei Seiten Stichworte, an deren oberen Rand hinter einer 1 und dem Schrägstrich die Seitenzahl eingetragen war. Ich bat ihn, meine Aufzeichnungen zu sammeln und zu bewahren. Umgehend begann ich mit Nummer 2.
Meine Mutter spricht noch heute von dem Moment, in dem sie das Paket öffnete und meine Kleidung darin fand, »als wärst du gestorben«.
Soviel für heute. Wie immer grüßt Sie sehr herzlich
Ihr Enrico T.
Freitag, 20. 4. 90
Verotschka! 174
Damit wir nicht unsere Telephonzeit damit verschwenden: Roland war hier. Er ist auf Vortragstour durch den Osten. Die PDS läßt ihn nur in Kleinstädten auftreten. Am liebsten aber spricht er von Dir, als wärst Du seinetwegen in den Westen gegangen.
Wenn ich Roland richtig verstanden habe, muß er sich bald nach etwas Neuem umsehen. Für seine Theorien haben sie nicht mal mehr an der Uni Verwendung. Er sagte es natürlich anders: Jetzt, da wir überhaupt erst beginnen würden, über den Sozialismus/Kommunismus nachzudenken, ausgerechnet jetzt wollten sie seine Stelle abschaffen. Ich fragte, wen er denn mit
wir
meine. Die Unterdrückten und Entrechteten, die Hungernden und Durstenden, die Vertriebenen, Vergewaltigten und Obdachlosen, sagte er ohne jede Ironie.
Dann zog er über das Neue Forum her, wie unverantwortlich sie gehandelt hätten, wie naiv und kindisch, als hätten sie nie etwas vom Kapitalismus gehört. Und jetzt könne man ja zusehen, wie alles zerschlagen werde, all das, was die »Differenz zum Kapitalismus« ausgemacht habe.
Es ist sinnlos, mit ihm zu streiten, das wußte ich vorher. Er hat dieses Geschick, einen ständig in Positionen zu manövrieren, in denen man von allein beginnt, sich zu rechtfertigen. Für ihn war ich einer vom Neuen Forum, der die DDR nolens volens ans Kapital verkauft hat.
Für die Zeitung hat er sich nicht interessiert. Früher habe in unseren Zeitungen wenigstens nichts gestanden, heute finde er nur noch Unsinn darin. Im nächsten Satz warf er mir vor, daß wir über seinen Vortrag nicht berichten würden – »wahrscheinlich aus Platzgründen«. Als ich ihn fragte, warum er mir das unterstelle, höhnte er, er sehe meinen Artikel bereits vor sich. Ich war sprachlos. Darauf Roland: Er habe an Reaktionären schon immer bewundert, daß sie aufhörten zu reden, sobald ihnen etwas nicht passe, sie vertrauten in das Bestehende, in die Macht des Faktischen, wozu da noch streiten? Ob er in mir einen Reaktionär sehe, fragte ich. Er lachte. Das sei ich doch schon immer gewesen! Im Gegensatz zu den PDS -Leuten ist er frei von Schuldgefühlen und völlig unbefangen. Das irritiert am meisten.
Er wäre wohl erst zufrieden, wenn wir seine Rede in voller Länge abdruckten, auf der ersten Seite beginnend, alles andere ist für ihn Zensur. Wie aber schreibt man über einen, der den Begriff Demokratie, bürgerliche Demokratie, so geschickt benutzt, daß ein Kind glauben müßte, das sei etwas Verdächtiges, ja Verachtenswertes.
Rolands triumphierende Schlußvolte, in der er Schalck-Golodkowski als letzten Internationalisten pries, der die kommunistischenVerlage und Parteibüros im Westen am Leben gehalten habe, und die in der Feststellung gipfelte, am 9. November habe die Konterrevolution gesiegt, war selbst den alten SED -Kadern peinlich. Sie fürchteten, daß Rolands Rede in die Öffentlichkeit gelangt.
Die Sowjetunion, die sozialistischen Staaten seien die einzige Macht der Welt gewesen, die den Kapitalismus noch gezügelt habe. Wir, der Osten, seien der Garant gewesen, daß der Kapitalismus im Westen ein menschliches Antlitz habe. Aber damit sei es jetzt vorbei. Ich würde schon sehen. Ich würde noch an seine Worte denken, wenn der Staat
Weitere Kostenlose Bücher