Neue Leben: Roman (German Edition)
verschlimmerte sich das morgendliche Warten. Die Offiziere, in voller Montur, dufteten nach Rasierwasser und versperrten uns den Weg zur Toilette, während uns die Unteroffiziere aus den Stuben trieben. Überall schrie, klirrte, schepperte es wie bei einer Treibjagd. Wir rannten hinausund dann auf der Straße vor den Kasernen bis zum Gebäude des Regimentsstabs und wieder zurück, um schließlich bei einem endlosen Appell unsere Ausrüstung begutachten zu lassen.
Am 13. Dezember 179 jedoch riß uns ein Alarm aus dem Schlaf. Diesmal dröhnte das ganze Regiment. Die Unteroffiziere, die nicht schneller als wir in die Sachen kamen, wollten nicht glauben, was passierte, und zögerten, die Waffenkammer zu öffnen. Erst als die Kompanien aus den oberen Etagen ausrückten, machten auch wir uns fertig – und vervollständigten das Chaos auf den Regimentsstraßen. Ich inhalierte die Abgase der Panzer, die auf der Plattenstraße vorüberrasselten. Überall Scheinwerfer, Lärm und Fahrzeugkolonnen. Unseren kalt gestarteten SPW bestieg ich wie eine Arche. Ich spürte weder Furcht noch Auflehnung, nichts, was mich gehindert hätte, an diesem Aufbruch teilzunehmen. Im Gegenteil: Selbst uns, den letzten in der Hierarchie, entging nicht das Grandiose dieses Alarms. Wir hockten unter geschlossenen Luken, spähten zu den Schießscharten hinaus und hofften, ohne Offiziere loszufahren 180 . Diesmal waren sie die Hasen.
Kaum hatten wir die Kaserne verlassen, bogen wir von der Straße ab. Zwei Stunden ging es über Wald- und Feldwege. Immer wieder knallten wir mit den Stahlhelmen gegen die Wagendecke. Manche wußten sich nicht anders zu helfen und pinkelten in ihr Eßgeschirr.
Als es hell wurde und wir absaßen und die Fahrzeuge tarnten,standen wir am Rand einer Schonung. Der Kompanieschreiber auf dem SPW vor uns fummelte an der Antenne eines schwarz verkleideten Sternrecorders herum und versuchte, sie auszurichten. Da das offenbar nicht gelang, nahm er den Apparat in beide Arme und drehte sich wie ein Tänzer im Kreis. Von ihm erfuhren wir nichts. Gunther, ein hellblonder bleicher Sachse, der sich für einen Kellner eigenartig hölzern bewegte und beim Exerzieren vor Eifer grimassierte, hielt sich sein »Micki«-Radio ans Ohr und begann sofort, mit seiner Falsettstimme loszujammern. Was das für eine Scheiße sei und ausgerechnet jetzt, er habe immer gesagt, die sollten lieber arbeiten und nicht rumzicken, das bringe nichts, gar nichts, das wisse man doch, da hätten wir aber voll in die Scheiße gegriffen. Dann war von »Polacken« und »faulen Polacken« die Rede.
Ich begriff, daß geschehen war, was ich mir gewünscht hatte. Zu jeder vollen Stunde stapfte Gunther in den Wald. Der erste Schnee war liegengeblieben, eine Weihnachtslandschaft mit Tannengrün und Tierspuren. Zehn Minuten später kehrte er fluchend zurück. Statt der neuesten SFB -Nachrichten gab er irgendwelche Schoten zum besten, die er mit Polen erlebt hatte. Als es mittags Rouladen mit Rotkraut gab und zum Nachtisch Pfirsichhälften aus der Dose, zweifelte niemand mehr am Ernst der Lage. Angeblich hatte der Spieß die Munitionskisten schon dabei. Unser Zugführer reichte als erster das Photo seiner Frau herum. Als die Reihe an mir war, zeigte ich Veras Photo vor.
Nach Einbruch der Dunkelheit wurde es bitter kalt. Der SPW war eine Eishöhle. Wir wärmten uns am Tee, den es reichlich gab, machten Kniebeugen, manche boxten miteinander. Die Zeiger meiner Uhr schienen eingefroren. Einmal legten wir uns dicht an dicht auf den Waldboden, hielten es aber nicht lange aus. Immer wieder faßte ich an meine Beintasche und spürte das Notizbuch – mein Amulett.
Der Befehl zum Aufsitzen kurz nach Mitternacht war eine Erlösung. Hauptsache, die Motoren sprangen wieder an. Nach zehn Minuten Fahrt beorderte mich unser Leutnant nach draußen und warf zwei Flaggen herab, mit denen ich den SPW dirigieren sollte. Ich rannte entlang einer Mauer vor dem SPW her. Meine Füße waren wie Stümpfe, deren Tok, Tok, Tok ich auf den Betonplatten vernahm. Wunderbarerweise blieb ich im Gleichgewicht. Wir passierten ein Tor – und da erst erkannte ich unsere Kaserne wieder.
Das Seltsamste an diesem Alarm war die Stille nach der Rückkehr. Auch von den Kompanien in den Stockwerken über uns hörte ich nichts. Man stellte einfach einen Hocker auf den Flur und putzte seine Waffe, die Unteroffiziere taten das gleiche, und die Offiziere verschwanden lautlos. Auf den Stuben wurde Tee gekocht, man
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