Neue Leben: Roman (German Edition)
Klangfarbe, Höhe und Schärfe zu entschlüsseln galt.
Unsere Waggons wurden mehrmals auf der Marienbrücke hinund hergeschoben. Das Canaletto-Panorama mit Hofkirche und Brühlscher Terrasse 171 war das letzte, was ich jetzt sehen wollte.
Natürlich wäre ich lieber, eskortiert von Uniformierten, abgeschottet durch ein Heer von Spitzeln, in einen Zug nach Westberlin gestiegen, wo ich, umringt von Kameraleuten und Photographen, ein neues Leben begonnen hätte. Doch die Voraussetzung für diesen Triumph war ja gerade, daß ich hier und jetzt kurzgeschoren antrat. Bevor ich meine Fundstücke präsentieren konnte, mußte ich hinab in die Unterwelt und mich umsehen.
Als wir endlich losfuhren und Radebeul vorüberzog – durch diese Weinberge waren wir schon mit Mutter und Vater gewandert, später hatte ich sie mit Vera und einmal auch mit Geronimo durchstreift –, wurde ich für Augenblicke zu jenem Schriftstellerdissidenten, den die Regierung abschob, der nie wieder in seine Heimatstadt zurückkehren durfte, getröstet durch eine Laudatio von Heinrich Böll 172 oder Willy Brandt. Ich sah aus dem Fenster und formulierte die ersten Sätze meiner Dankrede, einer Anklage, bei der auch der letzte Genosse begreifen mußte, welch großen Fehler sie mit meiner Ausbürgerung gemacht hatten.
Es begann eine schier endlose Irrfahrt. Ein Bauernjunge aus der Oberlausitz versorgte unser Abteil mit seinen Hausschlachterwürsten, weil er fürchtete – das hatten wir der Bemerkung eines Unteroffiziers zu verdanken –, der Proviant würde ihm bald abgenommen. Er selbst aß Leberwurst pur. Zum Helden wurdeer, als er die Unterwäsche aus seiner Tasche nahm und eine Flasche Doppelkorn herausschälte.
Meine neuen Kameraden verhöhnten die brandenburgische Landschaft, die mein Arkadien gewesen war, als Sand- und Kiefernwüste. Am späten Nachmittag erreichten wir, nüchtern und vertraut miteinander, das an den Norden Westberlins grenzende Oranienburg.
Auf dem Weg vom Bahnhof zur Kaserne irritierte mich, daß sich niemand nach uns umdrehte.
Wie auf Befehl stießen plötzlich Hunderte Füße in die Laubhaufen am Wegrand, schlurften hinein, wirbelten die Blätter auf, trieben sie vor sich her, schaufelten sie dem Vordermann auf die Hacken, dem Nebenmann vor den Schuh und verstreuten sie in alle Winde. Kein Befehl, kein Bellen gebot uns Einhalt. Erst als es keine Laubhaufen mehr gab, endete die Rebellion. Dagegen wirkte das Johlen der höheren Diensthalbjahre lächerlich. Sie rissen die Fenster auf und brüllten die Zahl der ihnen verbleibenden Tage heraus, als gäbe es in diesem Staat ein Ende der Armeezeit, als wüßten sie nicht, daß sie jederzeit wieder in Uniform gesteckt und in Kasernen festgehalten werden konnten. Mit Wucht knallte das Tor hinter uns zu …
An der Rückseite des Kasernenareals, zwischen einem Holzgebäude und dem Kulturhaus, war das Torgebäude des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen zu sehen.
Ich habe später eine lange Passage darüber geschrieben, wie wir mit unseren Taschen im Nieselregen standen, eine Kompanie nach der anderen vor uns zum Abendbrot in die Kantine einrückte, wie wir geimpft wurden, Fragebögen ausfüllen und warten mußten, bis wir völlig durchnäßt waren. Erst gegen neun, eine Stunde vor der Nachtruhe, wurde ich zusammen mit anderen in das dem Lagerturm am nächsten liegende Gebäude geschickt.
Obwohl wir dort eine weitere Stunde wie am Pranger auf dem Flur standen, wirkten dessen spiegelblanker roter Fußbodenbelag und die frisch gestrichenen Wände beruhigend auf mich. Ich wollte endlich meine nassen Sachen loswerden und, ja, freute mich auf eine trockene Uniform! Die mir zugewiesene nur mit zwei Doppelstockbetten bestückte Stube empfand ich als komfortabel. An dem rechten oberen Gestell klebte ein Zettel, darauf stand in Maschinenschrift: Soldat Türmer.
Meine einzige Angst war, nicht alles notieren zu können, was ich sah, hörte und roch. Nichts durfte verlorengehen.
Nach dem Weckpfiff am nächsten Morgen sprang ich aus dem Bett, als ginge es zu einer Expedition. Frühsport und Frühstück fielen für uns Nachzügler aus. Statt dessen warf man uns Stoffplanen vor die Füße, die sich zu Säcken knöpfen ließen. Damit zogen wir durch die Kleiderkammern. Stahlhelm, ein neues und ein altes Paar Stiefel, Dienst-, Ausgeh- und Felduniform, Schutzanzug, Gasmaske, Sportschuhe, Trainingsanzug, all das nahm ich entgegen wie ein Bergmann seine Ausrüstung. Ich fuhr unter Tage,
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