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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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geraubte Stunden bedeuteten ein Viertel unserer Zeit, einen verlorenen Abend, eine halbe Nacht.
    Endlich, nach Mitternacht, traf der Wiener Zug ein, aber ohne Nadja. Im Hotel standen mir noch die Tränen in den Augen, als ich um Rückgabe des Geldes bettelte. Man hatte Erbarmen mit mir. Ich nahm meine Tasche und stieg in den nächsten Zug, der nach Brno fuhr. Zwischen zwei und drei Uhr morgens suchte ich den dortigen Bahnhof nach Nadja ab und sprang, alarmiert von der Vorstellung, sie könnte an der Grenze festgehalten worden sein und mit dem nächsten Zug kommen, in einen schon anfahrenden Zug zurück nach Bratislava. Ich hatte Glück, daß ich nicht kontrolliert wurde. Wieder in Bratislava, rief ich ihre Mutter an, die, obwohl ich sie aus dem Schlaf riß, mit tiefer Stimme »Ach, mein Junge« sagte und mir dann die Nummer des Hotels »Jakub« in Brno diktierte.
    Im Hotel »Jakub« war unsere Geschichte bereits bekannt. Eine Kellnerin schritt uns voran in den Frühstücksraum und bewirkte mit einer Geste, als wäre ihr ein Zauberstück gelungen, mächtigen Applaus für das glückliche Ende unserer Irrfahrt. 206 War das nicht der Stoff, aus dem Romane gemacht werden? Mit Nadjas wenigen Schillingen spielten wir westliches Paar. Jede Kellnerin, jeder Museumswärter wurde in ein Gespräch verwickelt und ins Vertrauen gezogen, in jeder Passantin, in jedem Tischnachbarn fanden wir unser Publikum.
    Einmal, es war in Prag, hat mich Nadja sehr verunsichert.
    Ich wäre wohl auf die Kippah getreten, hätte sich nicht Nadja zuvor danach gebückt. Mit einer Spange – solche Utensilien barg ihre Handtasche – befestigte sie die Kippah in meinem Haar. Ich glaubte, Nadja sei neugierig, wie ich damit aussähe. Da es nur wenige Schritte bis zur Synagoge waren, die wir besichtigen wollten, behielt ich das Käppchen auf.
    Wieder auf der Straße, vergaß ich, es abzunehmen. Nach wenigen Schritten, Nadja hatte sich bei mir eingehakt, sprach uns ein Mann an. Er fragte nach der Synagoge und starrte auf meine Kippah. Beinah hätte ich sie abgesetzt wie einen Hut.
    Wieso er uns auf deutsch anspreche, fragte Nadja. Ihre Aussprache ähnelte der von Frau Zoubková, nur klang Nadja schneidend. Wieso er glaube, daß wir Deutsch verstünden, daß wir es gar sprechen wollten.
    Er nickte. Mit irrlichterndem Blick und bebenden Lippen suchte er nach einer Entschuldigung. Nadja, noch immer an meinem Arm, trat einen halben Schritt vor und wies mit der flachen Hand in Richtung Synagoge: »Geraadeaus!« schnarrte sie. Er nickte erneut, lächelte auf einmal wie befreit und rief »Schalom!«.
    Nadja zog mich fort. Ich wartete auf eine Reaktion von ihr, vielleicht sogar auf ein Lachen. Je länger sie schwieg, desto unruhiger wurde ich. Als ich sie ansah, blieben wir stehen. Nadja war eine Fremde, traurig und stolz, ja beinah hochmütig.
    Sie wollte nicht, daß ich die Kippah abnahm. Sie stehe mir gut. Am nächsten Tag, wir sprachen von ihrer Mutter, sagte Nadja, in ihrer Familie habe es auch Juden gegeben. Ich weißnicht, ob das stimmt. Die Kippah liegt noch hier bei den Mützen und Schals.
    Um die Prüfungen hatte ich mir kaum Gedanken gemacht. Ich glaubte an mein Glück und bestand jedesmal knapp. Die gutwilligen Prüfer honorierten meine Semesterarbeiten.
    Die längste Zeit, die Nadja und ich je gemeinsam verbrachten, waren acht oder neun Tage im August.
    Wir hatten uns im Isargebirge bei einer Slowakin eingemietet. Im Treppenhaus hing ein Photo von J. F. Kennedy im Silberrahmen.
    Nadja schien gewillt, Klarheit zu schaffen. Schon auf der ersten Wanderung zum Fernsehturm von Liberec fragte sie, wie es mit uns weitergehen solle. Ich sagte, daß ich mein Buch (an dem ich seit Monaten nicht mehr gearbeitet hatte) zu Ende schreiben wolle. Dann, wenn das wirklich ihr Wunsch sei, könne ich den Ausreiseantrag stellen. Das Wort Ausreiseantrag nahm kein Ende. Es zerfiel mir im Mund wie muffiges Konfekt. Nadja fragte, ob das denn wirklich mein Wunsch sei. Ja, sagte ich. Sie sagte, daß sie mich heiraten würde. Ich sagte, das wäre das einfachste.
    Wir liefen durch den abgestorbenen Wald 207 und merkten zu spät, daß wir auf einen verblichenen Wegweiser hereingefallen waren, der die verbliebene Distanz statt mit neunzehn nur mit neun Kilometern angegeben hatte.
    Im Restaurant des Fernsehturms mußte ich zweimal ansetzen, um pivo 208 zu bestellen, so ausgetrocknet war meine Kehle.
    Eine Kleinbahn sollte uns, nach dem Plan unserer Wirtin, ins Dorf zurückbringen,

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