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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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abzuspeisen, was, wie Vera mir versicherte, ein Fehler gewesen sei. Sie selbst hatte nicht nur sämtliche Franc ausgegeben, sie besaß überhaupt kein Geld mehr.
    Nachdem die Koffer gekommen waren, ich hatte sie in Nizza das letzte Mal berührt, gingen wir gegenüber ins »Café de Paris« zum Lunch, wie Barrista sagen würde. Allein jene anderthalb Stunden auf der Terrasse des Cafés wären die Reise wert gewesen. Aber ich habe Dir Wichtigeres zu schreiben.
    Bevor wir zur Siesta auf unser Königsbett fielen, kauften wir für mich eine Fliege und eine Sonnenbrille.
    Als ich erwachte, war es zwanzig vor acht. Von einem Moment auf den anderen geriet ich in Panik. Der Gedanke, all das Westgeld jetzt aufs Spiel zu setzen, erschien mir aberwitzig. Erst unter der Dusche beruhigte ich mich wieder. In die frischen Sachen fuhr ich, als legte ich eine Rüstung an. Dies waren dieSocken, die ich tragen würde, und das die Unterhose. Jeder Knopf, den ich schloß, bedeutete ein Stück Sicherheit. Nur der oberste ging nicht zu.
    Diese Blöße stellte alles in Frage. Wahrscheinlich besitze ich gar kein Hemd, bei dem sich der obere Knopf schließen läßt.
    Während Vera sich im Badezimmer herrichtete, band ich mir die Fliege um – und das Wunder geschah: Le nœud papillon verdeckte den Makel und versiegelte mich gleichsam.
    Eine Stunde später war ich überzeugt, herausgefunden zu haben, warum ich hier war. Es ging nicht um das Casino, sondern um ein ganz anderes Spiel. Hier, im »Grill«, in der achten Etage, vis-à-vis der Burg der Grimaldis, hier galt es zu bestehen, hier mußten wir mithalten.
    Braucht es nicht Courage, eine Front von zehn Kellnern abzuschreiten, von denen jeder mit dem liebenswürdigsten Lächeln »Bonsoir, Madame! Bonsoir, Monsieur!« sagt? Ist es nicht Mut, wenn man sich blind und ohne nach dem Stuhl zu tasten, nach hinten fallen läßt, ganz der Geschicklichkeit des Kellners vertrauend? Und was ist Tapferkeit, wenn nicht das gleichmütige Lächeln angesichts einer solchen Speisekarte? Wobei ich einräume, Vera, in deren Karte die Preise fehlten, vor dem iranischen Kaviar gewarnt zu haben. Für eine Vorspeise mehr als tausend Franc zu zahlen, hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht übers Herz gebracht. Dagegen verleugnete ich heroisch meinen Bierdurst und verlangte die Weinkarte. Während ich nach einem Rotwein unter 400 Franc suchte, entdeckte Vera in dem Hocker, der zwischen uns an die Tischecke gestellt worden war, die ideale Ablage für ihre Handtasche.
    Unsere Neugier irritierte die hochempfindlichen Wahrnehmungssysteme der Kellner. Schon ein flüchtiger Blick oder eine unbedachte Geste reichten, sie herbeispringen zu lassen, natürlich völlig umsonst, denn die Gläser waren gut gefüllt, der Aschenbecherleer, Rosinen- und Olivenbrot ausreichend vorhanden, und die Krümel hatten sie gerade erst vom Tischtuch gebürstet.
    Gibt es nicht eine Meditationsart, bei der die Abfolge erlesenster Speisen die Seele reinigt? Reiche Leute leben gesund, sagte Vera.
    Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, dem Baron ein Schnippchen schlagen und ihn betrügen zu können. Denn jene tausendachthundert Franc, die ich bereitwillig aufs Silbertablett legte, waren uns nicht mehr zu nehmen, weder von ihm noch vom Casino.
    Wie naiv von mir! Als gäbe es irgendeine Regung, irgendeinen Gedanken, die nicht zum Kalkül des Barons gehörten. Je zahlreicher und widersprüchlicher meine Reaktionen ausfielen, desto größer der Erfolg seiner Lehrstunden. Wahrscheinlich würde mich Barrista, hielte er diesen Brief in Händen, zuerst kritisch darauf hinweisen, daß ich bereits dreimal Preise erwähnt habe.
    Leider patzten Vera und ich zum Schluß: Hatte schon meine Barzahlung befremdet, gestaltete sich unser Aufbruch derart abrupt, daß die Leibkellner, die uns die Stühle hatten zurückschieben wollen, enttäuscht und vorwurfsvoll die Hände hoben.
    Im Casino standen wir schnell vor dem ersten Roulettetisch. Am liebsten hätte ich mich gleich an die Arbeit gemacht, besaß aber noch keine Jetons. Ich fragte Vera, welche Zahl sie als nächste erwarte, und tippte selbst auf »achtzehn«. Es gab keinen Grund, die Achtzehn zu nennen. Meine Favoriten sind andere Zahlen. »Achtzehn«, wiederholte ich – und verstand nicht, was der Croupier auf französisch verkündete. Vera sah mich erschrocken an. Achtzehn!
    Wie aber sollte ich dieses Orakel deuten: »Das ist dein Tag!« oder »Das war deine Chance!«?
    An der Kasse wechselte ich statt der für

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