Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
letzte.
    Die Leute im Gang drückten sich an die Scheiben, um sie durchzulassen. Ich begleitete Vera von Fenster zu Fenster. Ich sah, wie sich Vera unter dem Nichtraucherzeichen eine Zigarette anzündete. Sie hielt die Schachtel hoch, Mutters »Duett«. Dann wurden die Türen geschlossen, was den Kampf um die Fensterplätze neu entfachte.
    Wenn sich unsere Blicke trafen, lächelte Vera.
    Ohne Ansage, ohne Pfiff ruckte der Zug plötzlich an und fuhr los. Der Aufschrei auf dem Bahnsteig war ohrenbetäubend. Wer konnte, griff nach einer aus dem Fenster gestreckten Hand. Selbst Vera ließ sich von der Hysterie anstecken. Ich sah ihre Hand im oberen Fensterwinkel, als wollte sie mir ihre halbe Zigarette geben. Sie preßte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf, bis ich sie nicht mehr sah.
    Viel zu viele liefen neben dem Zug her, um die Hand, die sie umklammerten, noch ein paar Sekunden länger festzuhalten. So idiotisch ich das fand, so grandios war das Schauspiel, als alle diese Hände einander im selben Augenblick losließen.
    Vom Ende des Bahnsteigs her schwammen mir bereits rote verheulte Gesichter entgegen. Eine Frau fiel mir um den Hals und wurde weggezogen. Der letzte Wagen donnerte vorbei, einen Augenblick später war jeder wieder für sich, man sprach leise, nur ab und an ein Schluchzen. Einzeln, als hielten wir uns an eine Abmachung, verließen wir den Bahnsteig.
    Ich lief zur Elbe und am Ufer entlang stromaufwärts bis zum Blauen Wunder und dann hinauf, bis ich vor der großen Villa mit den runden Blumenbeeten stand.
    Franziska öffnete, als hätte sie mich erwartet. Sie begrüßte mich so herzlich, ja stürmisch, wie ich es mir früher erträumt hatte. Aus dem Keller hörte ich die Musik von Johanns Band, ein paar Takte nur, die immer an derselben Stelle abbrachen. »Sie streiten sich nur noch«, sagte Franziska. Ich hielt inne, weil jetztGesang zu hören war. Ich verstand kaum etwas, und der Sänger – es war nicht Johanns Stimme – verstummte auch bald wieder. Wie verachtete ich plötzlich diese Bagage, diese Kirchenmäuse, die nichts riskierten! War es denn nicht egal, wo und welchen Glauben man heuchelte? Hätte Johann denn Theologie studieren dürfen, wenn er bekannt hätte, ein Ungläubiger zu sein? Mein Widerwillen überraschte mich selbst. Statt mich gleich wieder zu verabschieden, folgte ich Franziska nach oben. Auf dem Treppenabsatz unter ihrer Dachwohnung ging das Licht aus. Franziska kam die Stufen herunter, um, wie ich glaubte, nach dem Lichtschalter zu tasten. Im Schein der Straßenlampe sah ich noch, wie Franziska ihre Brille ins Haar schob, dann drückte sie sich an mich, und wir küßten uns.
    Die ganze Zeit über bewegten wir uns kaum von der Stelle, nur ab und an knarrten die Dielen unter unseren Füßen. Natürlich hatte ich gemerkt, daß Franziska etwas getrunken hatte. Aber daß sie richtig betrunken war, wurde mir erst klar, als sie plötzlich in sich zusammensackte. Ich konnte nicht verhindern, daß sie zu Boden rutschte. Ich versuchte, sie auf eine Stufe zu setzen, und wäre dabei fast auf sie gefallen. Franziska hielt mich fest. »Stimmt’s«, flüsterte sie, »du liebst mich doch, oder?« Ich bejahte. 229
    Das Licht ging an, Johann verabschiedete sich von seinen Leuten.
    Ich befreite mich halbwegs lautlos von Franziska und schob ihr die Brille wieder auf die Nase. Doch weder meine Anwesenheit noch Franziskas Zustand schienen Johann zu überraschen.
    »Er liebt mich«, sagte Franziska, »er liebt mich!« Aber da siezwischen Johann und mir hin und her sah, war nicht klar, wen sie meinte.
    Ich wartete dann in der Küche, während Johann versuchte, Franziska ins Bett zu bringen. Als er wieder in der Küche erschien, suchte er nur nach einem Eimer, ließ Wasser einlaufen und verschwand erneut im Schlafzimmer.
    »Das wird schon wieder«, sagte er später, nachdem er sich ein Glas Leitungswasser genommen und sich zu mir gesetzt hatte. Er sah todmüde aus.
    »Ich habe Vera zum Zug gebracht«, sagte ich. »Sie läßt dich grüßen.« Ich weiß nicht, warum ich das erfand. Johann reagierte erfreut.
    Der Reihe nach erzählte ich von dem Telegramm, der Fahrt und von Mutter, von ihren Koffern und wie sie Vera zurückgerufen hatte. Ich bedauerte, daß Franziska nicht mit am Tisch saß, denn es war, wie ich fand, eine schöne Erzählung. Ich war schon bei der Stelle mit den Tauben angelangt, als Johann aufsprang und ins Schlafzimmer lief. Wie in einer Filmszene sah ich ihm nach und

Weitere Kostenlose Bücher