Neue Leben: Roman (German Edition)
beobachtete, wie die Küchentür immer weiter aufging.
Und plötzlich geschah es – ein Gefühl, eine Sehnsucht, die Gewißheit: Ich will raus! Ich will in den Westen!
Vielleicht war es nur das Eingeständnis eines längst vorhandenen Wunsches. Ich saß da und genoß die Klarheit, nur von einer einzigen Regung beherrscht zu werden. Ja, jetzt liebte auch ich den Westen von ganzem Herzen, eine Liebe, die mich überschwemmte und durchströmte und in die ich Vera und all jene, die mit ihr im Zug saßen, einschloß.
Als Johann zurückkehrte, verabschiedeten wir uns schnell, es war lange nach Mitternacht. Ich lief den ganzen Weg nach Klotzsche.
Ich war zu erschöpft, um noch irgendwelche weiterführendenÜberlegungen anzustellen. Ich wollte nichts anderes, als diesen einen Entschluß, der mir 230 alle Ungewißheit 231 auf vollkommene Art und Weise nehmen würde, sicher nach Hause zu tragen.
Ihr Enrico T.
Monte Carlo, am Sonntag, 14. 232 5. 90
Lieber Jo!
Ich sitze auf unserem Balkon im »Hôtel de Paris«, gehüllt in einen weißen Bademantel, mit Blick aufs Casino, links und rechts ein Streifen Meer. Mir ist speiübel. Die Müdigkeit ist wie ein Weinkrampf, doch sobald ich die Augen schließe, wird mir schwindlig. Schreiben ist eine gute Ablenkung. Vera hat trotz Ohrstöpseln kaum geschlafen. Jetzt flaniert sie durchs Hotel und wird wohl, sollte sie nicht zufällig eine Bekanntschaft machen, im Schwimmbad landen. Überhaupt eignet sich Vera für ein Leben wie dieses sehr viel besser. Nach Beirut wird sie so bald nicht zurückkehren. Das jüngste Gemetzel, obwohl es auf der »anderen Seite« geschah, hat ihr den Rest gegeben. 233
Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum Barrista das riskiert, warum er mir fünftausend D-Mark in die Hand drückt, Übernachtung und Flug bezahlt und als Gegenleistung nur verlangt,daß ich den Roulettetisch nicht eher verlasse, als bis mein Einsatz verloren oder verdoppelt ist. Allmählich aber ahne ich, was er im Sinn hatte.
Schon daß ich allein aufbrach, allein ins Flugzeug stieg, war neu für mich. Der Flug, die Alpen, das Mittelmeer, Nizza, Palmen, dann Vera – als wäre ich in einen Belmondo-Film geraten, als gäbe es den Westen noch! Vera sieht aus wie immer! Sie war am Donnerstag von Damaskus über Athen nach Paris geflogen und gerade erst angekommen. All ihre Habseligkeiten passen in zwei Koffer.
Barrista hatte mir empfohlen, den Helikopter zu nehmen. Routiniert wie Geheimagenten bückten wir uns unter dem lärmenden Rotor, die Türen wurden von außen geschlossen, und einen Augenblick später hoben wir ab. Gibt es ein besseres Sinnbild für unser neues Leben, als sich in die Lüfte zu erheben? Wir flogen hinaus aufs Meer, die Segelboote unter uns wie eine Großwildherde. Plötzlich Monaco in der Mittagssonne. Die erhabene Aussicht war allerdings nur mit einem kurzgeschorenen Nüschel 234 im Bild zu haben. Nach der Landung verschaffte uns Barristas Zauberwort »Hôtel de Paris« Respekt. Während der Kahlschädel in ein Taxi stieg, öffnete man uns die Türen eines Wagens, von dem Vera behauptet, es sei ein Bentley gewesen.
Palmen, Yachten, blauer Himmel – genau so hatte ich mir das vorgestellt. Über die Grand-Prix-Strecke schwebten wir hinauf zum Hotel. Der Teppich am Eingang machte meinen Gang leicht und federnd. Trotzdem kam ich mir vor wie bei einer Schloßbesichtigung. Vera hingegen verteilte in alle Richtungen Geldscheine, als wäre sie das so gewohnt.
Ich nannte einem älteren Herrn, der sich lächelnd erhobenhatte, meinen Namen und war plötzlich überzeugt, daß sich keine Reservierung für uns finden würde.
Bienvenue, Madame Türmer, bienvenue, Monsieur Türmer, wir sanken wie ein Brautpaar in die Sessel vor ihm. Die alten edel ermatteten Spiegel in der Wandtäfelung zeigten nun unsere Gesichter.
John, ja, er heiße John, empfahl uns für den Abend eine Reservierung im »Grill«. Wir stimmten zu, ohne zu wissen, worauf wir uns einließen. Ich grüßte ihn von Barrista (»Egal wen Sie dort treffen, mich kennen alle!), worauf John die Arme ausbreitete und sich verbeugte, als hätte er uns erst jetzt erkannt. Sein Habitus und sein Tonfall rechtfertigen die Krone auf diesem Briefpapier. John begleitete uns in das »belle chambre« und erklärte sowohl Telephon und Fernbedienung als auch Lichtschalter und Kühlschrank. Ein voller Aschenbecher auf dem Balkon entsetzte ihn.
Ich brachte es nicht übers Herz, einen Gentleman wie John mit Trinkgeld
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