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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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hätte sie nicht mal die gebraucht.
    »Was soll ich denn damit machen?« rief Mutter, lief hinter Vera her, bis die sich im Bad einschloß und wir alle drei herumschrien. Mutter schluchzte zuerst.
    Während ich Ihnen das schreibe, kommt es mir so vor, als erinnerte ich mich jetzt zum ersten Mal an diese Stunden. 227
    Vera ging noch einmal durch die Zimmer und öffnete jede Schublade, als wolle sie sich alles noch einmal einprägen. Am liebsten würde sie allein zum Bahnhof fahren, sagte sie. Kopfschüttelnd verfolgte sie, wie Mutter eine Doppelschnitte nach der anderen schmierte, als machten wir einen Familienausflug. Gemeinsam gingen wir zur Straßenbahn.
    Mutter hatte eine Schachtel »Duett« gekauft und rauchte unaufhörlich. Wir fuhren zum Platz der Einheit. Vera und ich waren schon ein paar Schritte in Richtung Neustädter gegangen, da rief Mutter sie zurück. »Vera! Ich schaff das nicht!« Mutter stand noch genau dort, wo wir aus der Bahn gestiegen waren. Vera lief zurück, setzte die Tasche ab, und mir war, als sähe ich sie zum ersten Mal Mutter umarmen. Ich sah auch, wie Mutter Veras Wange streichelte. Dann beobachtete ich die Leute, die sich nach den beiden umdrehten.
    Vera sagte nichts, warf nur einen Blick in ihren Handspiegelund hakte sich bei mir unter. Ich nahm ihre Reisetasche. Man hätte denken können, sie bringe mich zum Zug.
    Weder auf dem Vorplatz noch in der Bahnhofshalle bemerkte ich etwas Ungewöhnliches. Es war wenige Tage vor Ferienbeginn, und an den Kartenschaltern warteten lange Schlangen. Langsam stiegen wir die Treppen hinauf. Ich hatte Angst, daß Freundinnen oder Freunde von Vera kommen und wir nicht allein bleiben würden.
    Wir gingen den Bahnsteig entlang. Dicht an dicht standen die Grüppchen. Sekt- und Weinflaschen wurden herumgereicht. Fast immer waren Kinder dabei, die Campingbeutel auf dem Rücken trugen und irgendein Plüschtier an sich drückten. Ich dachte, daß die ganzen weißgesprenkelten Jeansmonturen nun wieder dorthin zurückkehrten, woher sie gekommen waren.
    Unter freiem Himmel, schon am Ende des Bahnsteigs, packte Vera die Brote aus.
    »Die Stasi hat nach dir gefragt«, sagte sie, ohne mich anzusehen. 228 Viel zu laut rief ich: »Was?«, ja ich meine, ich krähte dieses »Was?« wie ein Vierzehnjähriger im Stimmbruch.
    »So ist das eben«, sagte sie, »wenn man ein bißchen interessanter ist als der Rest.« Mit dem Daumen hob sie die obere Brotscheibe an und sagte, Mutter habe nach dreißig Jahren immer noch nicht kapiert, daß sie keine Blutwurst esse.
    »Diese Idioten«, sagte ich.
    »Wieso Idioten?« fragte Vera und warf den Tauben etwas Brot zu.
    »Was denn sonst«, sagte ich. Vera lächelte. Als wären wir deshalb hierhergekommen, fütterte sie die Tauben. Die Blutwurst hing wie eine Zunge zwischen den Brotscheiben heraus und fiel ihr schließlich vor die Füße.
    »Vielleicht sind es Idioten«, sagte Vera, »aber es gibt sie nun mal, und daran wird sich so schnell nichts ändern.«
    Der Zug fuhr ohne Lautsprecheransage ein. Während die anderen die Wagen stürmten, verfütterte Vera das restliche Brot. »Mit diesen Idioten kann man aber reden«, sagte sie. »Fällt dir noch irgend etwas dazu ein?«
    Ich hatte das Bedürfnis, mich hinzusetzen oder, lieber noch, mich hinzulegen. Fast hätte ich gesagt: »Das mußt du entscheiden.« Statt Vera nach dem Grund ihres Geredes zu fragen, schwieg ich, was vielleicht das schlimmste war. Ich sah auf den schwarzen Bahnsteig und zu den Tauben, die im Kampf um das Brot mit den Flügeln schlugen und übereinanderhüpften. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie es Vera gelang, mit dem kleinen Finger den Schnappverschluß ihrer Handtasche zu öffnen und eines der braun-weiß karierten Taschentücher herauszuziehen, eines dieser riesigen, stets gebügelten Taschentücher unseres Vaters, die nach Schrank rochen. In aller Ruhe wischte sie sich die Hände ab. Die Tauben wackelten umeinander herum und pickten nach jedem Dreck, sogar nach Kippen, so gierig hatte sie das Brot gemacht.
    Plötzlich hielt Vera die Bestecktasche aus gelblichem Kunstleder in der Hand, die ich einmal im Werkunterricht hatte fertigen müssen, mein Geschenk zu ihrer Jugendweihe. »Hier«, sagte sie, »das ist der Rest meines Vermögens.« Die Bestecktasche war voller Geldscheine.
    Vera war vor einer Wagentür stehengeblieben. Sie küßte mich zuerst auf die Wange, dann auf den Mund. Ich gab ihr die Reisetasche, und sie stieg ein, wahrscheinlich als

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