Neue Leben: Roman (German Edition)
Tauben, die vom Dach aufflog. Gern wäre ich losgelaufen – die Leute neben mir fielen schon in die Sprechchöre ein –, doch wir steckten mittendrin fest. Einen Moment später waren Ellen und Patrick spurlos verschwunden.
In der Fußgängerzone war kaum zu entscheiden, wo die Demonstration aufhörte und der Alltag begann. Ebenso unklar blieb, welchen Weg die Demonstration einschlagen würde.
In der Hoffnung, Patrick und Ellen wiederzufinden, drückte ich mich an ein Schaufenster. Und erst da begriff ich: Das ist eine Demonstration, hier demonstrieren Leute. Ich brauchte nur ein paar Schritte nach vorn zu machen und dann weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. So einfach ist es also, an einer illegalen Demonstration teilzunehmen, dachte ich.
Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, wie wir zum Bahnhof kamen, ob wir bereits vor der Oper abgebogen waren oder erstauf der Ringstraße. Die späteren Bilder überlagern die frühen. Ich sehe uns noch zwischen Häusern, vor Schaufenstern, wie eine Nebendemonstration, die darauf wartet, sich dem Hauptstrom anschließen zu können. Ein Transparent, das zusammengewickelt nicht größer als eine Rangierflagge war, wurde über den Köpfen weitergereicht, »Visafrei bis Shanghai«. Ich sah darin eine Methode, die Fingerabdrücke auf den Stäben zu verwischen. Gerade als es an mir war, den Arm auszustrecken und ein Ende zu übernehmen, brach ein »Gorbi, Gorbi!«-Sprechchor über uns herein. Ich sah zu Boden und hoffte, es möge schnell vorbei sein.
Die Straßenbahngleise zu betreten kostete mich einige Überwindung. Die Bahnen waren stehengeblieben. Ein Fahrer hielt die Arme verschränkt und sah ausdruckslos auf mich herab. »Reiht euch ein« 280 wurde skandiert. Die Leute in dem erleuchteten Wagen, die Stirn an der Scheibe, betrachteten uns wie Figuren in einem öden Film. »Reiht euch ein!« Sie werden das Lied kaum kennen – wir mußten es im Musikunterricht singen –, der Refrain heißt: »Drum links, zwei, drei, drum links, zwei, drei / Wo dein Platz, Genosse, ist / Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, / Weil du auch ein Arbeiter bist!« Daher, aus diesem Lied, stammte ihr »Reiht euch ein!«. Ist das nicht abgeschmackt? 281
Dann der Kordon der Bereitschaftspolizisten. Ich habe Ihnen ja die Stelle gezeigt, wo sie die Straße abgeriegelt hatten. Instinktiv wich ich zum Rand aus. Mir schien es ein zu offensichtliches In-die-Falle-Gehen zu sein. Die Menge rückte auf, schob dievorderen Reihen praktisch dem Kordon in die Arme. Auf einen Schlag war wieder alles überschaubar geworden, wie auf dem Platz vor der Nikolaikirche, von dem sie uns erst gar nicht hätten herunterlassen dürfen. Nun würden sie ihren Fehler korrigieren.
Links, auf dem hohen Bordstein, stand eine ältere zierliche Frau, die Arme angewinkelt, halb Tänzerin, halb Adorantin. Erst als ich die Leinen sah, an denen sie zwei Pudel hielt, die vor Aufregung umeinandersprangen, erklärte sich mir ihre Haltung.
Die Leuchtschrift auf dem Neubau links, der die Straßensperre zu verlängern schien, verkündete »Bienvenu«, »Welcome«, »Dobro poshalowat« – Grüße aus einer anderen Zeit, da man Angenehmeres zu tun hatte, als mit Tausenden auf der Straße zu stehen, sich an Sprechchören heiser zu schreien und auf neue Einheiten der Bereitschaftspolizei zu warten. Kaum ein Fenster war erleuchtet. Standen die Bewohner hinter den Gardinen, saßen sie beim Abendbrot oder vor dem Fernseher? Ich beneidete sie. Das »Astoria«, der Bahnhof, diese Leuchtreklame erschienen mir wie die Kulissen eines vertrauten Stücks, in denen man zwischen zwei Vorstellungen einen Sketch probte.
Ich weiß bis heute nicht, warum wir eigentlich stehenblieben, warum wir den Kordon nicht umgingen oder uns einen ganz anderen Weg suchten. Boten wir Demonstranten nicht der Staatsmacht geradezu an, uns einzukesseln? Oder erhielt unser Spaziergang überhaupt erst durch diese Reihe Uniformierter einen Sinn?
Ich hatte genug gesehen und gehört. Ich machte die ersten Schritte in Richtung Freiheit, da begann in meinem Rücken ein neues »Schämt euch was! Schämt euch was!«. Das dritte »Schämt euch was!« – ja, ich schämte mich für diese kindischen Sprüche – war ohrenbetäubend und versetzte die Pudel in Raserei. Sie bellten und verhedderten sich in den Leinen. Plötzlich sprang michder eine an, ich spürte die Krallen durch die Hose. Die Frau unternahm nichts. Sie gab sogar Leine nach, als ich zurückwich, dabei blickte sie
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