Neue Leben: Roman (German Edition)
Wochenende zu trennen, da die Würfel fallen sollten. Sie könne Thea nicht absagen, gerade jetzt müsse man in Kontakt bleiben. Außerdem sei ich auch eingeladen. Dabei wollte sie gar nicht, daß ich mitkam. Am Sonnabend brachten Robert und ich Michaela zum Zug. Sie lehnte sich aus dem Fenster und winkte, als wäre es ein Abschied für Wochen. Dann schaffte ich Robert zu Michaelas Mutter nach Torgau, wo er über Nacht bleiben sollte.
Rückzu konnte ich in Borna ohne längeres Anstehen tanken. Zu Hause aber überfiel mich das Alleinsein wie ein Unglück. Ich fuhr zur Autobahn, von dort waren es nur noch 107 Kilometer bis Dresden.
Erinnern Sie sich an die Züge mit Prager Botschaftsflüchtlingen? Aus den Nachrichten wußte ich von den Tumulten, die es am Dresdner Hauptbahnhof gegeben hatte. Wer rauswollte, versuchte, diese Züge zu erreichen.
Meine Mutter hatte ich zuletzt am Mittwoch gesprochen und geglaubt, sie sei zu ängstlich oder zu vorsichtig, um am Klinik-Telephon darüber zu reden.
Am 7. Oktober aber drehte sich alles wieder um Berlin und Gorbatschow und darum, was am Montag in Leipzig passieren würde. Während der Fahrt hörte ich alte Musik, einen berühmten Neapolitaner, dessen Namen ich mir eigentlich merken wollte, selbst Bach hat ihn bearbeitet. 287 Bei seinen Arien und Duetten hatte ich das Gefühl, das erste Mal seit Monaten wieder zur Ruhe zu kommen, als kehrten unter diesen Klängen die Welt und ich selbst in die vertrauten Bahnen zurück. Doch diese Stimmung war nicht von Dauer.
Nachdem ich an der Tür meiner Mutter geklingelt und gewartet hatte, schloß ich auf. Noch während ich den Vorhang, der den kleinen Vorraum des Eingangs von der Diele trennte, aufzog, nahm ich den Geruch meiner Kindheit wahr. Die Tasse in der Spüle war halb gefüllt mit Wasser, ihr Rand ohne die Spuren von Lippenstift. Auf dem Teller darunter schwammen Brotkrumen, am Messer war etwas Dunkles angetrocknet, Leberwurst oder Pflaumenmus. Der Topfputzer war voller Reiskörner und stank ein bißchen.
Ich ging zur Telephonzelle und rief in der Klinik an. Es meldete sich eine Schwester, die ich nicht kannte. Der Stimme nach mußte sie sehr jung sein. Frau Türmer sei zur Zeit nicht zu sprechen. Ich fragte, wie lang die OP dauern würde. Das könne sie nicht sagen. Ich bat sie, meiner Mutter auszurichten, daß ich sie in der Klinik besuchen werde. Zuerst dachte ich, die Schwester habe aufgelegt, dann erfuhr ich, meine Mutter habe dieses Wochenende keinen Dienst, sei also auch nicht in der Klinik.
Ich rief Geronimo an. Bei ihm war besetzt. Ich rief bei Thea an. Eines der Mädchen nahm den Hörer ab, rief, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte, »Bei uns ist niemand da!« und legte auf. Geronimo sprach immer noch. Ich ging zu dem kleinen Parkrondell mit dem Theodor-Körner-Gedenkstein und versuchte es ein drittes Mal, wieder vergeblich.
Als ich zurückkam, sah ich unser Wohnzimmer erleuchtet. Ich stürmte hinauf, klingelte, schloß auf, rief, lief ins Wohnzimmer, wo ich eine Weile stehenblieb, auf das Ticken der Wanduhr hörte und schließlich das Licht wieder ausschaltete. Ich ging von Zimmer zu Zimmer, machte die Runde ein zweites Mal, schaltete die Heizung ein und setzte mich schließlich in die Küche. Ich hatte keinen Hunger, wußte aber in dem Moment nichts Besseres, als mir etwas zu essen zu machen. Das Brot war alt, und das wenige, das ich im Kühlschrank fand, stellte ich, nachdem ich es eine Weile in Händen gehalten hatte, wieder zurück. Nur die Westschokolade aus dem Butterfach aß ich Stück für Stück zum Tee.
Sie werden sich fragen, warum ich Ihnen diese Belanglosigkeiten zumute. Natürlich sind die Details unwichtig, aber die alte Musik, die vertraute Umgebung und die Abwesenheit meiner Mutter machten mich wieder zum Kind. Ich fuhr zu Franziska und Geronimo.
Im Auto hörte ich Nachrichten, in denen Dresden nicht vorkam,jedenfalls nichts, was auf das, was gerade geschah, schließen ließ. Hinter dem Dr.-Kurt-Fischer-Platz 288 sah ich aus mehreren hundert Metern Entfernung die Straßenbahnen, die sich vom Platz der Einheit 289 zurückstauten.
Ich kehrte um und fuhr über die Dr.-Kurt-Fischer-Allee 290 zur Bautzner Straße, also direkt vorbei an den Gebäuden der Staatssicherheit, die »Festbeleuchtung« hatten. Außer auf einem Mannschaftswagen, der vor mir abbog, sah ich keine Uniformierten.
Um Gesine nicht zu wecken, warf ich Steinchen ans Fenster, immer wieder, bis ich aus dem dunklen Treppenhaus
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