Neue Leben: Roman (German Edition)
gedrückt, ich hatte unterschrieben – was ich weder leugnen noch widerrufen würde – und einen halben Tag dafür geopfert. Damit glaubte ich mich berechtigt, nun in Ruhe meine Arbeit fortsetzen zu dürfen. Sogar inmitten dieser Mondlandschaft, sogar in Espenhain war die Milde dieses Herbstes spürbar. Ich dachte an Kartoffelkrautfeuer, an die Wanderungen durchs Saubachtal bei Dresden zur Mühle mit ihrem riesigen Wasserrad und den mit Fallobst übersäten Chausseewegen, wo man trunken wurde vom Duft überreifer Pflaumen und Äpfel und der vor Wespen zitternden Luft. Ich dachte an die ersten Saisonspiele im Dynamo-Stadion, an die Festung Königstein und den Geschmack von Bockwurst und Faßbrause. Meine Dresden-Novelle erschien mir wie ein geliebtes Buch, das ich schon lange nicht mehr gelesen hatte.
Am nächsten Tag war es Jonas, der Intendant, der mir, als wäre er zufällig dort gewesen, von Leipzig erzählte. Zehntausend seien es gewesen, zehntausend Demonstranten! Wie gern hätte ich ihm die Mär, das seien alles Antragsteller 275 , geglaubt, aber zehntausend waren zuviel, viel zuviel!
Michaela erzählte, daß auf dem Dach der Leipziger Post Kameras installiert gewesen seien. Alles, was sie von Max erfahrenhatte, gab sie wieder, als wollte sie sagen: »Und, was hast
du
während dieser Zeit gemacht? Wo bist
du
gewesen?« 276
Was ich an der Demonstration so lächerlich fand, war ihr Feierabendcharakter. Erst macht man gewissenhaft seine Arbeit, danach geht man demonstrieren, aber nicht zu lange, denn am nächsten Morgen will man pünktlich und mit regenerierter Arbeitskraft wieder im Betrieb sein.
Am Mittwoch kaufte Michaela ein neues Radio.
Norbert Maria Richter hatte für den nächsten Montag eine Abendprobe angesetzt. Michaela hielt das für ein Alibi, für eine Pro-forma-Ankündigung. So, wie sich Norbert Maria Richter gab und wie er auf Max’ Erzählungen reagiert hatte, mußten sie annehmen, er fahre als erster nach Leipzig. Norbert Maria Richter aber dachte nicht im Traum daran. Michaela nannte ihn einen falschen Hund. Was sie zu sagen hätten, so Norbert Maria Richter, könnten sie am besten hier, auf der Bühne sagen. Dieser Freiraum sei ein Privileg, das sie im Sinne der Zuschauer zu nutzen hätten, eine Verantwortung, die wahrzunehmen sei und nicht leichtfertig vertan werden dürfe.
Wer Aufruhr spiele, soll die Petrescu in bester Stanislawski-Tradition interveniert haben, komme nicht drum herum, ihn zu studieren. Gerade aus schauspielerischer Redlichkeit sei es eine Pflichtverletzung, wenn sie diese Gelegenheit ungenutzt ließen. Sonst würden
wir
, also die Theaterleute, eines schönen Tages vom
Publikum
darüber aufgeklärt, wie Aufruhr und Revolution aussehen. Norbert Maria Richter sprach von Rücksichten gegenüber jenen, die anders darüber dächten, und wie notwendig es gerade jetzt sei, Disziplin zu wahren und sich durch gute Arbeit unangreifbar zu machen.
Michaela kündigte an, sich krank schreiben zu lassen. Wenn in den Nachrichten von den Prager Botschaftsflüchtlingen die Rede war, verstummten wir, und Michaela machte eine Geste, die sagen sollte: Da hörst du es ja, wir müssen nach Leipzig!
Am Montag mittag kam Michaela in die Dramaturgie. Sie wolle nur sagen, daß niemand nach Leipzig fahre. Da stand sie, Frau Eberhard Ultra, die Anführerin der Revolutionäre, in Waden- und Knöchelwärmern, mit ihrem Tuch über der Schulter. »Es ist alles so absurd«, sagte sie, »ich schäme mich so!«
»Dann fahr ich allein«, sagte ich, als wäre das die einzig mögliche Antwort.
Natürlich hatte ich keine Lust. Aber es mir entgehen zu lassen wäre blamabel gewesen. Würde es überhaupt noch einmal eine Demonstration geben, dann an diesem Montag, dem letzten vor dem 7. Oktober 277 .
Kaum hatte ich das gesagt, wollte mich Michaela nicht mehr fahren lassen. Immer wieder sprach sie von Krenz, der sei doch gerade erst in China gewesen, man wisse doch, was das zu bedeuten habe. 278
Man könne nicht zehntausend Leute über den Haufen schießen, jedenfalls nicht in Leipzig, und verhaften ließen sie sich auch nicht. Das Auto, sagte ich zum Schluß und gab ihr das zweite Paar Schlüssel, würde ich in der Nähe des Bayerischen Bahnhofs abstellen.
Nach unserem Abschied ging Michaela sogar auf den Balkon und winkte mir nach.
Die Sonne blendete, die späte Wärme ruhte wie ein göttlicher Segen auf diesem Tag. Die Landschaft im Rückspiegel war das Paradies, in das ich nach dieser letzten
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