Neue Leben: Roman (German Edition)
Beifall war dünn.
Er verharrte, als wollte er weitersprechen oder Fragen beantworten, da aber weder ihm noch sonst jemandem etwas einfiel, verschwand er wieder in der Menge.
Wie leicht hätte ich selbst diesen Part übernehmen können. Doch hätte ich ganz anders gesprochen! Meine anklagende und aufrührerische Rede lag seit Jahren in mir bereit! Ein bißchen Mut und Kletterkunst reichten aus, um in Stunden wie dieser Historisches zu vollbringen.
Ich zählte zu den ersten, die gingen, und sah, wie klein die Welt der Demonstranten war, wie wenige Schritte ausreichten,um in die vertrauten Kulissen, in das alte liebgewonnene Stück zurückzukehren. 284
Kurz nach neun war ich zu Hause. Robert hatte Michaela erwartet, nicht mich. Jedenfalls war seine Tür wieder zugegangen, noch bevor ich ihn gesehen hatte. Michaela konnte dann kaum ihre Enttäuschung über meinen Bericht verbergen, der blaß und einsilbig ausgefallen war, als hätte ich geschwänzt. Insgeheim hat sie wohl bezweifelt, daß ich überhaupt in Leipzig gewesen bin.
Im Bett mußte ich daran denken, was man uns in der Schule gelehrt hatte, nämlich daß bei uns in der DDR die Werktätigen nicht zu demonstrieren oder zu streiken brauchten, denn wer im Sozialismus auf die Straße ginge, demonstriere schließlich gegen sich selbst. Diese Formulierung beschrieb präzis meine Lage. Als Schriftsteller tat ich genau das. Ich demonstrierte für die Abschaffung meines Stoffes, meines Themas. Ich muß Ihnen das nicht weiter erläutern. Was sollte ich, ein Schriftsteller, ohne Mauer?
Herzlich wie immer,
Ihr Enrico
Freitag, 25. 5. 90
Liebe Nicoletta!
Damals fiel es mir schwer, über die Stunden in Leipzig zu sprechen, aber das Vergangene interessierte auch niemanden mehr. Michaela, die uns kaum im Vorraum geduldet hatte, wenn sie auf dem Klo saß, ließ nun sogar die Tür angelehnt, um weiter Radio hören zu können. Das nächste Radio kauften wir, nachdem die Grenze zur Tschechoslowakei geschlossen worden war. 285 Daß die Falle zuschnappen würde, hatte ich erwartet, allerdings nicht vor dem 7. Oktober. Michaela triumphierte, der Bankrott konnte nicht offensichtlicher, die Fronten nicht klarer werden. Am meisten verachtete sie jene, die sich erst jetzt zu Kritik und Empörung entschlossen.
Es war nicht leicht, gegen Michaelas Euphorie anzureden. Nie, sagte ich, hätte man es ohne den Windschatten des 7. Oktober so weit treiben können. Die Demonstranten hatten genau jene Tage erspürt, in denen sie mit Schonung rechnen konnten. Einen anderen Grund als das Jubiläum gab es für diese Zurückhaltung nicht. Nun aber, früher als erwartet, hatte das Hase-und-Jäger-Spiel begonnen. Schritt um Schritt, Zug um Zug nahte das Ende.
Ich bat Michaela, sich zurückzuhalten. Spätestens in zehn Tagen lebten wir unter Kriegsrecht. Oder glaubte sie vielleicht, die würden sich von unseren Sprüchen beeindrucken lassen und freiwillig abdanken? Wofür hatten sie denn ihre Staatssicherheit, Polizei, Kampfgruppen, Armee?
Meine Argumente erschienen mir so zwingend, daß am Ende nicht nur Michaela eingeschüchtert war, sondern auch ich selbst Angst hatte.
Und doch, liebe Nicoletta, ist das bestenfalls die Hälfte der Wahrheit. Nur wenn Sie mir glauben, daß ich vor allem Erleichterung, ja sogar eine gewisse Heiterkeit empfand, sind diese Briefe nicht umsonst gewesen.
Mir wäre nichts lieber, als an dieser Stelle meine Beichte abbrechen zu können. Aber es geht noch tiefer hinab.
Am Theater hatte ich kaum etwas zu tun und saß deshalb oft in den Nestroy-Proben. Michaela spielte wie gesagt den Eberhard Ultra. Im Grunde war es keine Rolle mehr. Sie spielte von Tag zu Tag mehr sich selbst.
Allein die Beschreibung der Proben würde die damalige Zeit hinlänglich charakterisieren. Auch ohne Zutaten wie Demonstration und Polizeieinsatz entstünde eine Art Chronik: von den Vorgesprächen im Mai und Juni, als Norbert Maria Richter im Stück noch eine Persiflage auf die Funktionäre und ihr Revolutionspalaver gesehen hatte, zu der Aufregung Anfang September, als auf der Bühne gezeigt werden sollte, daß Revolution möglich sei, über den Oktober, als die Inszenierung von Tag zu Tag platter wurde, weil die Straße der Bühne mehr als zwei Schritte voraus war, bis hin – aber ich will nicht vorgreifen.
Michaela war nicht davon abzubringen, am Sonnabend 286 – wie jedes Jahr – zu Theas Geburtstag nach Berlin zu fahren. Ich fand es absurd, sich ausgerechnet an jenem
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