Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
mir ungeniert in die Augen. Über den Mundwinkeln war ihr Oberlippenbärtchen besonders dicht. Erst als das »Schämt euch was« verebbte, machte die Frau kehrt. Sie humpelte, die Pudel folgten ihr willig, die Leinen hatten sich auf wundersame Weise entwirrt.
    Wenn ich schon blieb, wollte ich wenigstens etwas sehen, und so versuchte ich, möglichst weit vorzudringen. Man half mir, rief die Vorderleute beim Namen oder tippte auf ihre Schultern. Ich bewegte mich sehr langsam, um niemanden zu irritieren, nachdem ein Mann, fast noch ein Junge, meinetwegen zusammengezuckt und mitten im Ruf verstummt war.
    Als ich den Kordon der sich untergehakt haltenden Uniformierten unmittelbar vor mir erblickte – soweit ich sah, waren sie unbewaffnet –, verstand ich nicht, warum wir uns von ihnen aufhalten ließen. Sie waren ein Nichts gegen uns. Die Gesichter unter den Schirmmützen lagen im Schatten. Es fiel schwer, überhaupt einen Ausdruck zu erkennen.
    In dem schmalen Korridor, der Demonstranten und Uniformierte trennte, liefen drei junge Frauen hin und her, besser gesagt, frühreife Mädchen. Zwei von ihnen machten gleichzeitig eine Kaugummiblase, katschten weiter mit offenem Mund und lachten aufgesetzt, jeder sollte sehen, was für einen Spaß sie hier hatten. In ihren weißgefleckten Jeans wirkten sie plump und aufreizend zugleich. Wieso erlaubte man ihnen, sich hier derart aufzuführen? Außer mir schienen sie die einzigen zu sein, die bei den Sprechchören nicht mitmachten.
    Dann waren die Mädchen in nahezu klassischem Kontrapost stehengeblieben, die Hände in die Hüften gestemmt oder den Arm um die Schulter der Freundin gelegt, und taten, als plauderten sie mit einem Bekannten im Kordon.
    Die entscheidende Bewegung verpaßte ich. Sie werden es für Einbildung halten, doch ich nahm das Schweigen wahr, durch das sich die Tat ankündigte. Es war ein Innehalten, wie man es aus der Natur kennt, der Augenblick, in dem Tag und Nacht zusammenstoßen und alle Kreatur für ein paar Herzschläge verstummt. Wegen dieser Stille sah ich mich um – die Leute blickten auf, etwas drehte sich über unseren Köpfen – die Mütze fiel mit einem »Klack« des Schirms auf den Asphalt, kippte über und blieb verkehrt herum keine zwei Schritte vor mir liegen. Bevor ich das Namensschild entziffert hatte, schnappte sich eines der Mädchen die Mütze und warf sie über die Schulter wieder empor.
    Ich sah ihr Gesicht wie ein winziges Porträt, aufgehängt am anderen Ende der Welt, aber ich sah es in vollkommener Schärfe. Ich sah alles gleichzeitig: die um sich selbst schlingernde Mütze, den Kopf eines schwarzhaarigen Jungen, die Bewegung des Mädchens und die erstarrten Zeugen. Am meisten verwirrte mich der mützenlose Kopf, das verklebte schwarze Haar und die weiße, von einem Striemen 282 durchschnittene Stirn.
    Auch das zweite Mädchen fischte sich mit einer Hand die Mütze eines langen Kerls und warf diese sofort in die Luft. Die andere Hand behielt sie lässig in der Hosentasche. Diesmal landete die Mütze hinter mir. Ich hob sie auf. Jürgen Salwitzky 283 stand auf dem Zettel unter der Folie. Von hinten kam erster Jubel. Jürgen Salwitzky, auch er mit dem Abdruck auf der Stirn, sah seine Mütze wieder auffliegen. Denn bevor ich sie ihm hatte zurückgeben können, war sie mir entrissen worden wie eine Beute, die mir nicht zustand.
    Der Jubel, mit dem jeder neue Mützenflug begrüßt wurde, konkurrierte mit Keine-Gewalt-Rufen. Ich verstand nicht, worauf die Uniformierten warteten. Was mußte denn noch geschehen?
    Das dritte Mädchen drehte eine Schirmmütze auf ihrem Kopf hin und her.
    Jürgen Salwitzky und die beiden anderen Barhäuptigen sahen jetzt aus wie die Gefangenen ihrer bemützten Nebenmänner.
    Die Keine-Gewalt-Sprechchöre waren verstummt. Jetzt wollten die Demonstranten mehr Mützen sehen, und einige Mutige erhaschten ihre Trophäen. Sie hatten leichtes Spiel. Untergehakt konnten die Uniformierten bestenfalls ihren Kopf nach hinten werfen und wütend und ängstlich zugleich die ausgestreckte Hand des Räubers beäugen.
    Bald aber hatte man sich auch daran gewöhnt. Deshalb war es eine Erlösung, als ein junger Kerl auf irgend etwas stieg und eine kurze Ansprache hielt. Wir sollten uns nicht provozieren lassen und jetzt nach Hause gehen, am nächsten Montag aber wiederkommen und jeder noch einen Freund, Kollegen oder Nachbarn mitbringen. Heute hätten wir einen Sieg errungen, einen Sieg, auf den wir stolz sein könnten. Der

Weitere Kostenlose Bücher