Neue Leben: Roman (German Edition)
Blatt aus der Maschine, auf dem ein Gedicht zu stehen schien.) Kaum aber hielt ich mein Produkt in der Hand, versank ich in Melancholie. Wohin sollte mich diese Reduktion führen?
Das war zwei Tage bevor die Ungarn die Grenzen öffneten. 270 Bisher hatte ich die Ungarnurlauber, so gut es ging, ignoriert. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, vielleicht einen Kompromiß, der sie zurückkehren ließ, doch keinesfalls die Öffnung der Grenze! Ein dauerhaftes Loch in der Mauer war unvorstellbar. Michaela verlangte, wir sollten darauf anstoßen. So trank Robert sein erstes Glas Wein auf das Wohl der Ungarn. »Vielleicht«, sagte Michaela, »wird es ja noch was mit Westberlin!«
Ich korrigierte sie nicht, weil mir das Mißverständnis zu grundlegend erschien.
Norbert Maria Richter, der Regisseur von Nestroys »Freiheit in Krähwinkel«, versuchte zur selben Zeit, mich durch einen anderen Dramaturgen zu ersetzen. Unsere Differenzen seien unüberbrückbar.
Noch im Juni wollte Norbert Maria Richter aus »Krähwinkel« eine Art »Ritter der Tafelrunde« 271 machen, eine Farce auf die verratene Revolution, auf die zu Bonzen gewordenen Revolutionäre, auf die Geschichte, die sie sich in ihrer Erinnerung schönlügen. Und das alles mit viel Show.
Jetzt, im September, glaubte Norbert Maria Richter im Stück den Geist der Revolution entdecken zu können.
Schon weil es dieser Norbert Maria Richter war, durch den ich von der Gründung des »Neuen Forums« erfuhr, er sprach »von einem bedeutenden Schritt in Richtung Demokratisierung der Gesellschaft«, wollte ich damit nichts zu tun haben.
Allerdings legte mir noch am selben Tag Ramona, meine Kollegin, ein paar ausgefüllte Anträge auf Mitgliedschaft im »Neuen Forum« auf den Tisch. Michaela habe ihr versprochen, die Anträge nach Halle zu einer Kontaktadresse zu bringen.
Mir blieb keine Wahl; ich mußte selbst einen dieser Zettel mit Name und Anschrift ausfüllen. Ich wußte, welche Dummheit ich damit beging, welche Kinderei das war. Jetzt spielte auch ich »Opposition«. Genau dieser Zettel würde mir über kurz oder lang in einem Verhör wieder vorgelegt werden.
Michaela hingegen benahm sich nicht wie eine, die ihre Existenz und das Glück ihres Kindes gefährdete, sie wirkte eher, als hätte sie endlich die richtige Rolle am richtigen Theater bekommen.
Am letzten Montag im September, dem Tag, an dem wir nach Halle fahren sollten, fand ich die Anträge nicht mehr in meiner Tasche. Ich durchwühlte meinen Schreibtisch im Theater, durfte mir aber wegen meiner Kolleginnen nichts anmerken lassen. Der Gedanke, Michaela und die anderen durch meine Unachtsamkeit ans Messer geliefert zu haben, war unerträglich.
Ich fuhr nach Hause, ich konnte kaum sprechen. »Sie sind weg«, japste ich, »die Anträge sind weg!«
Michaela hatte sie aus meiner Tasche genommen, um sich die Adressen der anderen abzuschreiben.
Auf der Fahrt sahen wir mehrere Polizeiwagen, doch der höchst unwahrscheinliche Fall, wir – Robert war mitgekommen – könnten herausgewinkt und durchsucht werden, hatte alle Schrecken verloren.
Michaela freute sich, jemanden mit dem Namen Bohley kennenzulernen, offenbar eine Verwandte von Bärbel Bohley 272 . Außer der funktionierenden Klingel und dem Namensschild am Briefkasten deutete nichts darauf hin, daß das Haus noch bewohnt war. Der ganze Straßenzug schien zum Abriß freigegeben. Michaela war enttäuscht. Wir beschlossen, später wiederzukommen, und fuhren ins Zentrum. Auf dem Markt liefen wir hin und her und bestellten in einer Milchbar die teuersten Eisbecher. Wir versuchten, Robert zu beschreiben, wie der Dom von Feininger gemalt aussieht, spazierten weiter zur Moritzburg und hinunter zur Saale. Michaela wollte weder zum Haus von Albert Ebert 273 gehen noch Schuhe kaufen, obwohl sie welche sah, die ihr gefielen. Sie mochte nicht mit einem Einkaufspaket vor der Bohley-Tür erscheinen. 274
Wir hatten dann wieder kein Glück. Michaela, die Antragszettel in der Hand, zögerte, sah von mir zu Robert und wieder zu mir, als wollte sie uns eine letzte Chance geben, sie vor einer Dummheit zu bewahren. Oder lag ihr daran, dem Augenblick eine gewisse Weihe zu verleihen, weil von nun an nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war? Lautlos verschwanden die Zettel im Briefkasten.
Im Auto sprachen wir kaum miteinander. Auf der Schnellstraße von Leipzig nach Borna glaubte ich, etwas ein für allemal hinter mich gebracht zu haben. Ich hatte mich nicht
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