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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Schritte hörte. Geronimo erschien hinter der Türscheibe, öffnete und umarmte mich. Damit aber war seine Freude auch schon verpufft. »Was gibt’s?«
    Ich solle mich nicht wundern, flüsterte er im Treppenhaus, er habe Besuch.
    Geronimo ging voran, die Küche war leer. Er öffnete die Speisekammer. »Es ist Enrico«, sagte er und hielt die Tür auf, als wollte er mir seinen Golem präsentieren. Für ein paar Augenblicke geschah nichts. Ich setzte mich – und stand sofort wieder auf. Weil er sich ducken mußte, um durch die Tür zu kommen, sah ich zuerst nur den weißen Turban, einen Kopfverband. Heraus kam Mario, der rote Mario Gädtke aus unserer Klasse, der zur Armee wie in ein Ferienlager aufgebrochen war. Seine linke Gesichtshälfte war angeschwollen. Wir gaben uns die Hand. »Das trifft sich«, sagte er, »sind wir alle wieder beisammen.« Mario setzte sich aufs Sofa und holte unter seinem Pullover einen A4-Block hervor. Wir hatten uns sieben Jahre nicht gesehen. Ich wartete auf eine Erklärung, auch dafür, warum erin der Speisekammer verschwand, wenn jemand Steinchen ans Fenster warf.
    »Er ist gerade entlassen worden«, sagte Geronimo. Mario verzog genauso wie früher die Lippen.
    »Von wo entlassen worden?«
    Mario lächelte vor sich hin.
    »Von der Bereitschaftspolizei«, antwortete Geronimo für ihn. Sie hatten ihn am Vorabend einkassiert und erst vor zwei Stunden nach Hause geschickt.
    »Das hat er von dort mitgebracht«, sagte Geronimo und deutete auf den Verband. Mario hob den Kopf. Ich fragte nach Franziska.
    »Die ist nicht in Gefahr«, sagte Mario und lächelte wieder.
    »Sie arbeitet für die Konferenz ›200 Jahre Französische Revolution‹ im Hygiene-Museum«, erklärte Geronimo. In dieser Situation verlasse immer nur einer von ihnen das Haus, der andere bleibe bei Gesine. Er wollte fortfahren, Mario aber hatte zu lesen begonnen, und zwar so laut, daß Geronimo aufstand und die Küchentür schloß.
    Marios Bericht ist in Geronimos Buch 291 nachzulesen, natürlich etwas anders, als ich ihn damals zu hören bekam. Im Vorwort beschreibt Geronimo, wie er Mario so zerschlagen, mit einem Verband um den Kopf, kaum wiedererkannt hatte. Mario habe ein Glas Wasser nach dem anderen getrunken, bevor er überhaupt fähig gewesen sei, ein Wort zu sagen. In diesem Moment, schreibt Geronimo, also bevor er von Mario irgend etwas erfahren habe, sei ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, daß all das dokumentiert werden müsse. Danach ist viel die Redevom Vergessen und Bewahren, von Schuld und Recht und Sühne und Vergebung. Außerdem gewinnt man den Eindruck, Mario sei zu ihm gekommen, weil Geronimo eben derjenige war, an den man sich in Not wandte, der Fels in der Brandung.
    Bei der Beschreibung des Abends verschweigt Geronimo meinen Besuch. Ich habe damals tatsächlich kaum etwas gesagt. Aber wie Sie sehen werden, hätte es trotzdem nahegelegen, mich – wenn auch in einer Nebenrolle – zu erwähnen.
    Was Mario vorlas, hörte sich anfangs an wie ein Unfallprotokoll, wie ein bereits amtlich gewordenes Papier, ein Beschwerdeschreiben an wen auch immer. Nach Datum, Uhrzeit (20.15) und der Angabe, sich zum Hauptbahnhof begeben zu haben, betont er, »in alkoholfreiem Zustand« gewesen zu sein, und zählt die »mitgeführten Gegenstände« auf: Personalausweis, Portemonnaie, Zigaretten, Streichhölzer, Haustürschlüssel, Taschentuch. Diese Bestandsaufnahme hat sich bis in die gedruckte Fassung erhalten. Dort heißt es: »Mein Ziel war, mich persönlich davon zu überzeugen, was an den Berichten von Freunden, Nachbarn und Kollegen der Wahrheit entspricht und was nicht. In der Nähe des Hauptbahnhofs und entlang der Prager Straße waren viele Tausende Menschen versammelt. Die Prager Straße und besonders das Terrain um das Rundkino waren durch Sicherheitskräfte abgeriegelt. Es waren mehrere Sperrzonen zu erkennen. Unmittelbar vor dem Rundkino war eine Hundestaffel postiert. Rowdyhafte Ausschreitungen konnte ich keine wahrnehmen. Soweit ich es überblicken konnte, setzten sich die Sicherheitskräfte aus Einheiten der Bereitschaftspolizei, Transportpolizei sowie der NVA zusammen. Vor dem Rundkino, auf der Höhe des Geschäftes für Musikinstrumente, waren Sprechchöre zu hören: ›Vater, schlag nicht! Bruder, schlag nicht!‹, ›Wir bleiben hier!‹, ›Ohne Gewalt!‹.«
    Ich fragte, ob es nicht »Keine Gewalt!« heißen müsse, Marioaber beharrte auf »Ohne Gewalt!«. Was im Buch fehlt, ist sein Kommentar des

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