Neue Leben: Roman (German Edition)
»Wir bleiben hier!«. Er hatte es erklärungsbedürftig gefunden, diesen Ruf als Abgrenzung zu denen, die die DDR verlassen wollten, zu interpretieren, keinesfalls als Widerstand gegen die polizeiliche Aufforderung, die Straße zu räumen.
»Vor dem Exquisit-Bekleidungsgeschäft photographierte ein Passant den Absperriegel. Daraufhin stürzten 2 Uniformierte auf ihn zu; der Passant unternahm einen Fluchtversuch, schien aber bald zu resignieren, so daß er gegriffen wurde. Sehr grob führte man ihn hinter den Sperriegel, der Photoapparat wurde ihm entrissen. Dies alles geschah im Laufschritt. Die Sicherheitskräfte rückten weiter vor und räumten so die Prager Straße. Wer nicht schnell genug vor ihnen herlief, wurde schonungslos einkassiert. Zu Beginn einer jeden Phase des weiteren Vorrückens schlugen die Uniformierten mit ihren Gummiknüppeln im Takt auf ihre Schutzschilde, erst langsam, dann immer schneller, bis sie losliefen. Das steigerte sichtlich die Angst und das Entsetzen der Flüchtenden.«
Die Passage über das Geräusch der Schlagstöcke habe ich wesentlich länger in Erinnerung. Es gab auch Vergleiche. Bei einem verwechselte Mario römische Legionäre mit Gladiatoren. Sobald er schwieg, zog er wieder seine vorgestülpten Lippen zur Seite.
»So etwa gegen 22.30 Uhr formierten sich auf der Straße vor dem Hauptbahnhof, Höhe Busbahnhof, Armee-Einheiten. Sie henkelten sich fest in den Armen ein und verteilten sich auf die gesamte Straßenbreite. Hintereinander waren es ungefähr 10 bis 15 Reihen. Schnellen Schrittes und begleitet durch gemeinsames, lautstarkes ›Links, 2, 3, 4‹, begannen sie die Straße entlangzumarschieren, Richtung Zeitkino. Zu diesem Zeitpunkt befand sich jedoch nur ein geringer Teil der Bürger vor dem Hauptbahnhof, es war eher ein Zustand der relativen Ruhe an diesemPunkt zu verzeichnen, denn die Sprechchöre kamen aus Richtung Leningrader Straße.«
Etwa an dieser Stelle geschah etwas, was ich nicht im mindesten erwartet hatte. Mit einem Lächeln schob Mario die Blätter über den Tisch zu Geronimo. Nun sah ich, was mir längst hätte auffallen müssen: Es war Geronimos Schrift, nicht jene, um die ich Mario immer beneidet hatte wegen ihres gleichmäßigen Flusses, die wie eine Gravur die Seiten füllte.
Mario lehnte sich auf dem Sofa zurück. Geronimo schob sich die Blätter zurecht.
»Als Zeugen für die Richtigkeit meiner Aussagen«, diktierte Mario, »kann ich meinen ehemaligen Klassenkameraden Johann Ziehlke nennen, den ich zufällig auf der Prager Straße getroffen hatte. Hast du was dagegen?« Geronimo schüttelte den Kopf, während er schrieb. Mario breitete die Arme auf der Sofalehne aus, den Kopf an die Wand gelehnt, und fuhr mit zur Decke gerichtetem Blick fort zu diktieren. Auch diese Passage habe ich anders in Erinnerung und glaube, die Lücke darin zu erkennen.
»Trotzdem setzten diese Uniformierten ihren Marsch unbeirrt fort und räumten ohne erkennbare Notwendigkeit die Straße (einschließlich Kreuzung) vor dem Hauptbahnhof. Dahinter fuhr ein Armeefahrzeug des Typs Ural. Aus diesem kamen qualmende Gegenstände auf die Menschen geflogen. Ich merkte schnell, daß es sich um Reizgas handelte. Ich konnte ca. 10 Minuten lang nicht mehr richtig sehen, die Augen brannten sehr, die Schleimhäute waren angegriffen! Das alles, obwohl ich mein Taschentuch sofort als Gesichtsschutz benutzte. In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß ich schon bei meinem Eintreffen an diesem Abend umgehängte Schutzmaskentaschen an den Uniformierten bemerkt, diesem Fakt aber bis dahin keine größere Beachtung geschenkt hatte. Einige Zeit später rücktendie Uniformierten von der Prager Straße her weiter vor. Dabei umzingelten sie auch die große Rasenfläche gegenüber dem Busbahnhof. Zu dieser Fläche hatte ich mich nämlich zuvor begeben, weil sich dort nur vereinzelt und sehr verstreut Bürger aufgehalten hatten.«
Haben Sie es bemerkt? In den Minuten, als Mario nichts oder kaum etwas sehen konnte, bleibt die Szene leer. Aber so ist es nicht gewesen. Zudem verlor sich gerade mit dieser Stelle sein halbamtlicher Tonfall. Er und Geronimo hatten sich untergehakt, weil sie fürchteten, sonst »abgesammelt zu werden wie Marienkäfer mit verklebten Flügeln«. Es gab zwei, drei humorig groteske Sätze, in denen er beschrieb, wie sie beide blind umhergelaufen waren, von betrunkenen Hühnern war die Rede und dem Gestank von fauligen Eiern. Plötzlich war ihm Geronimos Arm entglitten,
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