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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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er hatte nach ihm getastet, ihn gerufen und schließlich geglaubt, sie seien aus der Tränengaswolke raus und in Sicherheit. Schließlich war er in der Annahme, Geronimo sei zurückgeblieben, umgekehrt, um ihn zu suchen.
    Geronimo hatte nicht einmal aufgesehen, als Mario die Arme von der Lehne genommen, ihn angeblickt und gesagt hatte: »Du warst wie vom Erdboden verschwunden.« Ich glaubte, Geronimo beende nur den Abschnitt, bevor er sich erklären würde. Doch Mario nahm schon wieder seine vorherige Position ein, lehnte den Kopf an die Wand und diktierte weiter.
    »Doch sehr bald schon mußte ich feststellen, daß die Uniformierten, mit den Knüppeln auf ihre Schilde schlagend, immer weiter vordrangen. Dabei kamen sie nun auch vom Busbahnhof aus in breiter Front die Straße entlang, so daß es kein Entrinnen gab. Drei oder vier Jugendliche wollten sich seitwärts entfernen. Auf einen stürzte ein Uniformierter zu und rannte ihn zielgerichtet aus vollem Lauf brutal um. Anschließend schlug er auf den sich nicht wehrenden Bürger erbarmungslos mit dem Gummiknüppelein. Ein weiterer Uniformierter eilte ihm zu Hilfe. Gemeinsam schleppten sie das Bündel nach hinten.« Mario beschrieb die Aktionen der Uniformierten, das Hin und Her. Schließlich kam die Reihe an ihn. »Sturmtrupps begannen, die letzten verstreut umherstehenden Bürger zu jagen, einzufangen, zusammenzuschlagen und in die Einkreisung zu schleppen. Ich vernahm, wie jemand rief: ›Da ist noch einer!‹ Erst spät bemerkte ich, daß 3 Armisten auf mich zustürmten. Ich drehte mich um, sah um mich – keiner in meiner Nähe. Ich begriff – die jagten mich! Ich begann zu flüchten. Aufgrund meiner geistigen Schaltpause waren sie jedoch schneller heran, als ich weg war. Und so blieb ich stehen, hob die Arme und rief: ›Ich komme freiwillig mit, ich wehre mich nicht!‹ Zwei Uniformierte packten mich, einer nahm mich in den Schwitzkasten und drückte sehr fest zu. Der andere drehte mir meinen rechten Arm sehr schmerzhaft auf den Rücken. Dabei schlugen sie 4–5mal auf meinen Rücken ein und brüllten: ›Halt deine dreckige Schnauze! Noch ein Wort, und du sprichst tagelang nicht mehr!‹ Sie schleppten mich in die Einkreisung. ›Nicht so zaghaft! Sonst helfe ich nach!‹ schrie ein Uniformierter. Ich wurde auf die Straße geworfen, ein Stiefeltritt in den Rücken half nach. Dort lagen schon andere Bürger, etwa 10 Personen. Jemand brüllte: ›Gesicht auf die Erde, Arme breit und nach vorn, Beine breit, Arsch runter!‹ Ein Uniformierter trat mir kräftig auf das Hinterteil und rief dabei: ›Weiter runter, flacher!‹ Ich konnte dann auf die Uhr sehen. Es war 0.25 Uhr. Die Kälte des Erdbodens durchdrang langsam meine Kleidung, ich fror. Nach einer Weile fuhren LKW s (W50) vor. Eine Leibesvisitation erfolgte, bei der wir in der beschriebenen Stellung verharren mußten. Zu meiner rechten Seite warf ein Uniformierter nacheinander 2 Flaschen auf den Erdboden. Einzelne Splitter gingen bedenklich nahe unseren Köpfen nieder. Bald wurde von rechts her begonnen, jeden Liegenden einzeln hochzuzerren.«
    Bisher hatte Mario monoton gesprochen und nur am Satzende die Stimme gesenkt. Bei allem Merkwürdigen, das diese Situation ohnehin schon besaß, fragte ich mich, warum die beiden einander nie ansahen. Als Mario die Torturen beschrieb, wurde seine Stimme lebhafter. Mitunter, etwa beim Tritt auf sein Hinterteil, lachte er sogar auf. Geronimo hingegen beugte sich dann wie ein schlechter Schüler tiefer über das Blatt. Ich habe Marios Erzählung, vor allem die folgenden Teile, weit weniger ungelenk in Erinnerung, als sie jetzt nachzulesen sind:
    »Wir wurden zum LKW geführt und mußten aufsteigen. Dabei bekam ich abermals Schläge. Neben mir wurden weitere 4 Bürger plaziert. Uns gegenüber nahmen knüppelschwingend 2 Uniformierte Platz. Draußen brüllte ein Uniformierter: ›Euch Dreckschweinen werden wir’s zeigen!‹ Während der Fahrt durften wir nicht nach hinten hinaussehen und hatten die befohlene Haltung beizubehalten. Die Fahrt dauerte ca. 15 Minuten und war sehr kurvenreich. Warnend schlugen die 2 Bewacher mit ihren Knüppeln auf die Sitzbänke. Das Fahrzeug hielt. Wir mußten runter vom LKW . Dies sollte einzeln und nacheinander geschehen. Doch auf der anderen Seite ging es den Uniformierten nicht schnell genug, sie halfen nach. Wir befanden uns auf Kasernengelände. Es regnete. Wir 5 mußten uns in einer Reihe hintereinanderstellen, die Hände im Genick

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