Neue Leben: Roman (German Edition)
Ihnen nicht nur meine damalige Meinung mit.
Gegen Michaelas Wahn war kein Kraut gewachsen. 297 Ich wußte, sie würde nach Leipzig fahren. In Norbert Maria Richter oder Jonas mußte ich keine Hoffnungen setzen. Robert bliebe mein einziges Argument, aber Thea hatte schließlich auch keine Rücksicht auf ihre Familie genommen.
Mittags in der Kantine wußte jeder von leer geräumten Turnhallen und Notlazaretten zu berichten. Jonas, der lange geschwiegen hatte, sagte mit einem wissenden Lächeln, er rate jedem dringend davon ab, heute nach Leipzig zu fahren.
Als wir uns nach der Probe trafen – natürlich war an eine richtige Probe nicht zu denken gewesen –, fuhren wir zu TanteTrockel. Die würde, sollten wir uns bis zehn nicht gemeldet haben, nach Robert sehen. Danach gingen wir noch in die Kaufhalle – das Angebot war unglaublich gut, ich erinnere mich jetzt nur an die Gläser mit Gewürzgurken, plötzlich schienen davon Unmengen verfügbar zu sein, ebenso H-Milch und Ketchup. Unser Kühlschrank war später so vollgestopft wie vor Weihnachten. Michaela legte zweihundert Mark auf den Küchentisch, dazu unseren Vorrat an Telephonzwanzigern, das restliche Münzgeld und die Kliniknummer meiner Mutter. Ich schrieb die Nummer von Geronimo dazu. Robert begann erst beim Anblick der Geldscheine zu ahnen, wie sehr sich dieser Nachmittag von allen anderen unterschied. Er wollte mit. Ich war dafür, Michaela dagegen. Sie sprach mit ihm in seinem Zimmer. Als sie wieder herauskam, sah ich, daß sie geweint hatte. Gegen vier starteten wir; aus dem Theater hatte sich niemand von Michaelas komfortablem Angebot zum Mitfahren bewegen lassen.
Hinter Espenhain wurden wir herausgewinkt, Verkehrskontrolle. Ich hätte nur die Papiere zu Hause vergessen müssen oder ein Blinklicht demolieren, womöglich wäre dann die Reise schon vorbei gewesen. Man wünschte uns gute Fahrt. Bevor ich wieder ins Auto stieg, ließ ich meinen Blick auf den mickrigen Bäumen und Sträuchern ruhen, die den Parkplatz umgaben – in diesem Moment erschien er mir wie eine Idylle. Es war verhältnismäßig warm. Mir kam es so vor, als hätte ich seit Jahren nicht mehr ans Schreiben gedacht.
Kurz vor Leipzig begann sich Michaela zu schminken. Wir könnten doch noch einen Schaufensterbummel machen, sagte sie, Zeit hätten wir ja. Dabei legte sie mir eine Hand auf den Schenkel, als wolle sie mir Mut machen.
Was folgte, ist schnell erzählt:
Wir parkten vor dem Dimitroffmuseum. Direkt gegenüber, in einer Nebenstraße, standen LKW s der Kampfgruppen. Ausgroßen Kübeln wurde Tee an die Uniformierten verteilt. Sie schienen keine Waffen zu tragen. Wir überquerten die Straße und kamen bis auf zehn Meter an sie heran. Die wenigen, die uns bemerkten, sahen schnell weg.
Wir gingen am Neuen Rathaus vorbei zur Thomaskirche. Ein bißchen benahmen wir uns wie Touristen, denen man eine Stunde Freizeit gelassen hat, bevor ihr Bus weiterfährt. Wir umrundeten die Kirche und blieben eine Weile vor dem Denkmal Johann Sebastian Bachs stehen. Michaela zog es in den gegenüberliegenden Buchladen. Gerade in einer Situation wie dieser, sagte sie, sei es schön, von Büchern umgeben zu sein. Ich gehorchte meinem Reflex, doch noch bevor ich die ersten Meter des Regals überflogen hatte, war mir klar, daß ich nichts kaufen würde. Ich sah überhaupt keinen Sinn mehr darin, ein Buch auch nur in die Hand zu nehmen. 298
Es muß dann schon in der Nähe der Oper gewesen sein, als wir auf eine ganze Reihe von diesen Mannschaftswagen stießen. Wir liefen an ihnen vorbei, und es war fast so, als würden wir sie besichtigen. Ein paar Uniformierte stapften hin und her, den Blick auf ihre Gerätschaften gerichtet. Sie hatten auch Hunde dabei und Wasserwerfer.
Am Gewandhaus blieben wir stehen. Von den Eingangsstufen aus konnte man den ganzen Platz übersehen. 299
Liebe Nicoletta! Sie werden vielleicht annehmen, wir hätten in diesen Stunden irgendwelche gewichtigen Gespräche geführt, Gespräche über die Zukunft und über Robert, oder uns wenigstens versprochen, von nun an jeden Augenblick unseres Lebens zu genießen und einander zu lieben. Aber nichts von alldem.
Weil ich die Staatsmacht nie zuvor derart bedrohlich zu Gesicht bekommen hatte, war es gerade dieser Anblick, der alles so unwirklich machte. Jedesmal wenn eine Kolonne Mannschaftswagen aus Richtung Grassi-Museum auf den Ring einbog, hupten die Autos dagegen an, Pfiffe gellten. Waren die Wagen vorbei, wurde es wieder ein
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