Neue Leben: Roman (German Edition)
war und was Mario erzählt hatte, wie auch die Demonstration vom Vorabend waren verflogen wie ein Spuk. Eine halbe Stunde später, ich war im »Café am Altmarkt« gewesen, einem von Veras Lieblingsorten, schien sich auf dem Theaterplatz etwas zusammenzubrauen, die Dimitroffbrücke 296 war bereits gesperrt. Nachdem ich eine Weile Ausschau nach Marios Turban gehalten hatte, kehrte ich über die Marienbrücke nach Hause zurück. Ich schrieb meiner Mutter, daß ich bedauerte, mit ihr keinen Ausflug nach Moritzburg machen zu können. Beim Durchlesen wollte ich das Blatt zerreißen, aber ich war froh, überhaupt etwas zu Papier gebracht zu haben.
Auf der Autobahn fuhr ich nie schneller als hundert, hielt mich an alle übrigen Geschwindigkeitsbegrenzungen, hörte Musik und glaubte für Bruchteile von Sekunden, ich hätte letzte Nacht tatsächlich Vera getroffen.
In Torgau wartete Robert schon auf mich. In jeder Hand einen Beutel, lief er vor mir her zum Auto. In einem war Kuchen, in dem anderen ein mehrfach mit Zellophantüten und Einweckgummisgesicherter Topf, darin gefüllte Paprika. Robert sagte, das sei alles für mich. Wieso für mich, fragte ich. »Für uns alle«, sagte Robert, »aber vor allem für dich.«
Er fragte, was ich gemacht hätte. Wie auch später Michaela erzählte ich ihm, daß mein Freund Johann ein Telegramm geschickt und mich gebeten habe zu kommen. Deshalb sei ich nach Dresden gefahren. Er fragte nach meiner Mutter, und ich sagte, ich habe sie zu Hause nicht angetroffen. Wir fuhren zum Bahnhof.
Michaela stieg direkt vor mir aus. Daran, wie sie mich geflissentlich übersah, unentwegt ihre Haare hinters Ohr zurückstrich und mich erst dann begrüßte, wurde klar: Sie steckte in einer Rolle, einer neuen Berliner Rolle, die sie uns jetzt vorführen würde. Robert kam mit seinem auf dem Rücken hin und her hüpfenden Campingbeutel auf sie zugerannt und fragte sie noch vor der ersten Umarmung, ob ihr schlecht sei. Denn Michaelas Rolle bestand jetzt darin, sich überanstrengt zu geben, zugleich aber alle verbliebenen Kräfte dafür aufzubieten, sich diese Erschöpfung nicht anmerken zu lassen.
Das einzige, worüber ich im Auto redete – sie hat es mir immer wieder vorgehalten –, waren die gefüllten Paprika und der Kuchen. Michaela warf mir noch Monate später vor, ich hätte sie völlig allein gelassen und mich benommen wie der letzte Trottel. Dabei hat sie jede Nachfrage Roberts ignoriert und immer nur wieder gesagt, Thea lasse uns herzlich grüßen und wir sollten beim nächsten Mal unbedingt mitkommen.
Ich sah nichts Beunruhigendes darin, daß sie sich sofort nach ihrer Ankunft ins Bad verzog. Ich stellte den Topf auf den Herd, deckte den Tisch im Wohnzimmer, Robert füllte die saure Sahne in ein Schälchen und zündete die Kerzen an. Uns zuliebe legte er »Friday Night in San Francisco« auf. Mehrmals rief er nach Michaela. Nachdem ich den Plattenspieler leiser gestellt hatte, hörten wir sie schluchzen.
Schließlich erschien sie mit einer Schleppe aus Toilettenpapier, als brauchte sie eine ganze Rolle, um ihre Tränen zu trocknen und sich die Nase zu putzen. Sie öffnete das Balkonfenster – der Geruch von Essen bereite ihr Übelkeit –, ließ sich aufs Sofa fallen und zog Robert an sich. Über seinen Kopf hinweg sah sie in jene Ferne, in der sie wohl das uns Verschwiegene schaute.
Thea, Michaela und Karin (auch sie Schauspielerin) hatten sich, bevor die abendliche Geburtstagsrunde begann, für zwei Stunden in Theas Lieblingskneipe gesetzt, in der Stargarder Straße, nicht weit entfernt von der Gethsemanekirche. Bis sieben waren sie dort gewesen, Thea hatte von ihren Gastspielen im Westen erzählt, Erfolge, die man sich hier gar nicht vorstellen könne. Auch das Publikum sei viel spontaner und offener gewesen als hier. Weniger berauscht vom Bier als von diesen Geschichten, waren sie dann auf die Straße getreten und hatten sich einer Front behelmter und mit Schutzschilden und Schlagstöcken bewehrter Uniformierter gegenübergesehen. Sie waren umgekehrt, aber in der anderen Richtung war auch kein Durchkommen gewesen, die Schönhauser Allee war gerade an dieser Stelle abgeriegelt. Sie waren wieder zurückgekehrt und hatten die Behelmten um Durchlaß gebeten, sie wollten endlich nach Hause. Thea zeigte sogar ihren Ausweis und sagte, sie habe heute Geburtstag. Man antwortete ihnen nicht. Sie versuchten es erneut auf der anderen Seite. Dort trugen die Uniformierten keine Schilde und
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