Neue Leben: Roman (German Edition)
schöner Oktobernachmittag mit Leuten, die einander zulächelten, die Buchläden durchstreiften und auf die Straßenbahn warteten.
Ich erklärte Michaela, deren Einkäufe ich trug, aus welcher Richtung die Demonstranten kommen würden, falls man sie überhaupt bis auf den großen Platz ließe. Wären sie erst mal hier, könne sie nichts mehr aufhalten. Wir hatten einen geradezu idealen Standort gefunden. Von hier aus konnten wir flüchten oder teilnehmen oder einfach verharren. Wer wollte einem verbieten, mit einer Buchtüte unterm Arm vor dem Gewandhaus zu stehen?
Plötzlich drangen von allen Seiten Geräusche auf uns ein. Aus Lautsprechern tönte ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit 300 , und zugleich hörte ich die Sprechchöre laut und nah. Unversehens war sie da, die Demonstration, wir hatten es gar nicht gemerkt. Von einer Sekunde auf die andere war der Opernplatz voller Leute, als hätten sie Tarnkappen abgeworfen. Wir selbst waren die Demonstration! Jetzt ist es zu spät, dachte ich. Michaela knetete meine Hand. Ich wollte ihr sagen, sie brauche nun keine Angst mehr zu haben, als sie mich wegzog. Michaela strebte aufeinen Mann zu, der mit seinem Schnauzer und dem kahlen Kopf aussah wie eine Robbe. Sie umarmten sich. Er trug eine Brille aus dem Westen und tat so, als habe er mich gar nicht bemerkt. Mindestens eine halbe Minute lang wartete ich hinter Michaela und sah ihn über ihre Schulter hinweg an. Irgendwann sagte sie: »Das ist Enrico, der ist auch am Theater.« Ich fragte, was
er
denn mache, worauf Michaela »Das ist ***!« rief. *** nickte kurz wie in Gedanken und richtete seine Robbenaugen wieder auf Michaela. Und schon gingen wir drei nebeneinander in Richtung Post. Ich schob mich neben Michaela und winkelte meinen rechten Arm an, damit sie sich bei mir unterhakte. Sie aber tat nichts dergleichen und wandte kein Auge von der Robbe. Ich wußte nicht einmal, woher sie sich kannten. »Irre«, sagte die Robbe mehrmals, »irre!«
Ohne mich wären sie einander wohl noch öfter um den Hals gefallen. Michaela erzählte von Thea. Sah so der Regisseur aus, der Michaelas Träume erfüllen konnte?
Unerträglich war mir der Gedanke, daß er nun unauslöschlich mit diesem Tag verbunden sein würde. Wie eine Zecke würde er von nun an in unserer Erinnerung hängen. Genosse Robbe war dazu übergegangen, statt »irre« »schlimm« zu sagen. Jedem Satz von Michaela gab er mit »schlimm, schlimm« seinen Segen. Sie fühlte sich davon angespornt. Plötzlich zeigte er zu der Kamera hinauf und sagte: »Wenn das ein Maschinengewehr wäre!« Jemand hatte angefangen, der Kamera zuzuwinken, und nun winkten alle um mich herum hinauf. An der Fußgängerampel machten wir halt.
Sie kennen ja die dunklen Fernsehbilder. Haben Sie die Langsamkeit bemerkt, mit der die Leute einen Fuß vor den anderen setzten, und die großen Abstände zwischen ihnen? Ich kannte nur Maidemonstrationen, bei denen man sich ewig die Beine in den Bauch stand, ab und an ein paar Meter voranschlurfte, warteteund schließlich zum Laufschritt angetrieben wurde, damit vor der Tribüne keine Lücke im Demonstrationszug entstand. Hier aber schlenderte man zu zweit, zu dritt, in Grüppchen über den Platz, darauf bedacht, den anderen nicht zu nahe zu treten. Die Ampel wurde grün. Wir aber blieben stehen und warteten. Ein Mann fragte: »Beim nächsten Grün gehen wir los?« Und so betraten wir, als das grüne Männlein wieder aufleuchtete, endlich die Straße.
Wir wandten uns nach links, in Richtung Hauptbahnhof. Die Leute in den Autos, für sie war kein Durchkommen mehr, saßen wie festgefroren, angststarre Blicke. Von den Einsatzwagen, überhaupt von Polizei war nichts zu sehen. Nur ein einziger Polizist zeigte sich breitbeinig in einer Nebenstraße, als wollte er sich die Demonstration einmal persönlich anschauen. Nach zwei- oder dreihundert Metern drehten wir uns um. Sie erinnern sich vielleicht, die Straße fällt zum Hauptbahnhof hin leicht ab. Michaela jubelte und umarmte mich, die Robbe schrie: »Irre, irre!« Die ganze Stadt schien eine einzige Demonstration!
Auf einmal brüllte die Robbe los: »Reiht euch ein! Reiht euch ein!« Beim zweiten Mal hatte er sogar seinen Arm erhoben und skandierte es mit geballter Faust, als drohte er den Leuten in dem Restaurant, die an die Fenster gekommen waren und winkten. »Reiht euch ein!« brüllte er, und Michaela fiel beim vierten oder fünften Mal mit ein. Dann wechselten sie zu »Gorbi, Gorbi!«. Es war grausam.
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