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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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Die beiden machten ein solches Geschrei, daß alle Gespräche verstummten und den anderen nichts weiter übrigblieb, als einzustimmen.
    Michaela wandte sich mir zu, als wollte sie sagen: »So wird’s gemacht!«
    Wenn die Robbe pausierte, sprach Michaela weiter von Thea. Sie nahm es klaglos hin, daß die Robbe sie mitten im Satz unterbrach, um die »Internationale« anzustimmen.
    Wir liefen unter der dichtbesetzten Fußgängerbrücke hindurch und betraten die riesige Kreuzung dahinter, die völlig leer war. Ich genoß es, mitten auf der Straße gehen zu können. Im selben Moment sah ich die Helme und Schilde, vielleicht dreihundert Meter von uns entfernt. Wir blieben stehen. Die Robbe klärte uns darüber auf, daß dort die »Runde Ecke« sei, das Gebäude der Staatssicherheit.
    Wie schon an der Fußgängerampel warteten wir, daß die Leute aufrückten und der Demonstrationszug dichter wurde. Auf dieser Kreuzung hörte ich zum ersten Mal »Wir sind das Volk« (im Originalton: »Mihr sinn das Vouhlg«), was mir damals wie eine Antwort auf den Leserbrief der Kampfgruppe vorkam. 301
    An der »Runden Ecke« – kein einziges Fenster war in dem ganzen großen Haus erleuchtet – sah ich erst, wie klein der uniformierte Haufen war, der sich da vor dem Eingang Schild an Schild drängte. Ich glaubte zu erkennen, daß diese Hopliten wie Pferde zu scheuen und auf der Stelle zu tänzeln schienen. 302 Um sie zu beruhigen, hatte sich eine Reihe von Demonstranten vor die Schildbewehrten gestellt. Sie hielten sich an den Händen und sahen den anderen Demonstranten zu, wie diese brennende Kerzen zu ihren Füßen auf das Pflaster stellten.
    Plötzlich verschwand die Robbe von unserer Seite und zwängte sich in die Menschenkette vor den Uniformierten. Dabei sah er nach links und nach rechts, als ginge es darum, sich beim Schlußapplaus gleichzeitig mit den anderen zu verbeugen. Statt weiterzugehen und ihn dort stehen zu lassen, trat Michaela vor ihn hin. Er aber, ganz ergriffen von seiner neuen Rolle, ignorierte sie jetzt.
    Schweigend trotteten Michaela und ich an der Thomaskirche vorbei, bis wir zum Neuen Rathaus kamen.
    Ich wunderte mich über das Freudengeschrei um uns herum. Ich hatte eher das Gefühl, wir seien ins Leere gelaufen. Was sollte man tun? Noch einen Schwenk, zurück zum Gewandhaus?
    Michaela wollte bleiben. Ich ging weiter geradeaus zum Auto. Notgedrungen folgte sie mir. Was ich gegen *** habe, rief sie, und warum in aller Welt ich den Beleidigten spiele. Von ihm, sagte ich, habe sie mir nie erzählt. Da gebe es auch nichts zu erzählen, sagte sie, sie hätten sich nur einmal in der Kantine des BE getroffen und Thea habe sie einander vorgestellt. Ich sagte, daß ich ihr das nicht glaubte … Ich wolle einfach nicht kapieren, unterbrach sie mich, wie es unter Theaterleuten zugehe; sie seien eben eine große Familie und so eine Begrüßung habe gar nichts zu bedeuten. Ganz egal wie es sei, sagte ich, auf jeden Fall habe sie mich verleugnet.
    Wir schwiegen während der gesamten Rückfahrt.
    Als ich die Wohnungstür aufschloß, glaubte ich erst, Tante Trockel sei gekommen, aber es war meine Mutter, die mit Robert Abendbrot aß. Ich dachte, sie würde uns Vorwürfe machen wegen unseres Leichtsinns und weil wir Robert allein gelassen hatten. Aber das schien sie nicht zu interessieren. Sie habe mal wieder vorbeischauen wollen, sagte sie und hörte Michaela mit schiefgelegtem Kopf zu, als berichtete sie von ihrer letzten Premiere. Tante Trockel hingegen, von der ich den Schlüssel holte, verlangte einen vollständigen Bericht. Den sei ich ihr schuldig, schließlich habe sie bereits ihre Sachen gepackt. Sie klang vorwurfsvoll, als hätte ich sie um eine Reise, um ein Abenteuer gebracht.
    Ihr Enrico T.

 
     
    Freitag, 1. 6. 90
     
    Lieber Jo!
    Ich habe Dir die Stelle versprochen, und ich werde mein Versprechen halten, schon aus Eigennutz! Aber ich brauche noch ein paar Tage, vielleicht sogar ein oder zwei Wochen, um Klarheit zu schaffen. Ich weiß nicht, was in den letzten Tagen hinter meinem Rücken passiert ist. Von einem Augenblick auf den anderen hat alles die schlimmstmögliche Wendung genommen. Die Atmosphäre ist völlig verändert und läßt mich kaum mehr atmen.
    Morgens beginne ich mit allen guten Vorsätzen, um dann, mit jedem unerwiderten Gruß, jedem mir ausweichenden Blick, jedem ins Leere gesprochenen Satz mehr und mehr zu jenem tückischen Wesen zu werden, für das man mich hält.
    Vielleicht bin ich mit

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