Neue Leben: Roman (German Edition)
sollen.
»Schlechte Nachrichten«, sagte Michaela. Mir kam es vor, als sei sie im Grunde stolz darauf. Karin sei bei Theas Kindern geblieben, Thomas habe einen Bericht über Theas Verhaftung verfaßt und in der Gethsemanekirche vorgelesen und ausgehängt. Karin habe als Zeugin unterschrieben und ihre Adresse angegeben. Karin habe Michaela versprochen, auch ihre, also unsere Adresse darauf zu schreiben. »Dort muß die Hölle los sein«, sagte Michaela.
Am nächsten Morgen waren wir kurz vor zehn im Theater. In der Dramaturgie, diesem niedrigen dunklen Raum unterm Dach, drängten sich die Leute.
Michaela griff sofort zum Telephonhörer, preßte ihn ans Ohr und hielt sich während des Gesprächs das andere Ohr zu.
Die meisten schien die pure Langeweile hierher verschlagen zu haben. Sie inspizierten unsere kleine Bibliothek, blätterten in alten Programmheften und sprachen über Aufführungen und Kollegen, als sei das ein Gebot der Stunde. Ging die Tür auf, stockten die Gespräche jeweils für einen Augenblick.
Amanda von der Requisite erschien und kurz darauf Olaf, der Inspizient. Norbert Maria Richter war noch nicht da. Amanda steckte sich eine Zigarette an und fragte, was wir denn planten. »Ich plane nichts«, sagte ich.
Die einen sprachen über eine Resolution des Dresdner Theaters, die auf der Bühne verlesen werden sollte, andere von Blutkonserven und freigeräumten Stationen. Das werde tatsächlich in Leipzig erzählt, bestätigte Patrick. Ellen habe ihn deshalb im Theater angerufen. Amanda zeigte uns einen Artikel aus der »Volkszeitung«. »Werktätige fordern: Staatsfeindlichkeit nichtlänger dulden!« lautete die Überschrift. Eine Kampfgruppeneinheit namens Geifert fühlt sich von gewissenlosen Elementen nach der Arbeit, beim Genuß ihres verdienten Feierabends, belästigt. Die Folgerung daraus: Sie sind bereit und willens, das von ihrer Hände Arbeit Geschaffene zu verteidigen und zu schützen, die Störungen endgültig und wirksam zu unterbinden. »Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand.« Ich las den Artikel laut vor und ließ die Zeitung herumgehen. Amanda hielt ihre Kippe unter den Wasserhahn und legte sie neben die Seife zu den anderen. Sie lächelte.
»Heute entscheidet sich alles«, hörte ich plötzlich Michaela. »Wenn wir heute versagen, dann haben wir für immer versagt.« Ihr Blick ging von einem zum anderen. »Wenn wir heute nicht selbst auf die Straße gehen, lassen wir alle, die inhaftiert und gefoltert wurden, im Stich.« Darauf folgte die Wiedergabe dessen, was Thea erzählt hatte.
Michaela nahm sich Zeit für ihre Rede, hob kaum die Stimme und ließ alle spüren, daß sie um Sachlichkeit rang und ihre Gefühle, schließlich handelte es sich um ihre beste Freundin, zu unterdrücken verstand. Sie ähnelte schon einer Nachrichtensprecherin, als sie ein Mädchen erwähnte, das sich habe ausziehen müssen und unter dem Gelächter der Polizisten nackt über den Gang gejagt worden war. Dieses Martyrium sei Thea erspart geblieben. Dafür spüre sie noch den Schlag auf den Kopf – minutenlang habe sie bewußtlos auf dem LKW gelegen; schlimmer noch seien die Rückenschmerzen, die ganze rechte Seite sei ein einziger Bluterguß. Sie seien bei jeder Gelegenheit geschlagen worden, sogar dann noch, als sie an der Wand standen, mit den Händen im Nacken. Immer wieder hätten junge Kerle Leibesvisitationen vorgenommen.
Nach 38 Stunden ohne Schlaf und Essen habe man sie entlassen. Gestern abend sei um die Gethsemanekirche die Straßenbeleuchtungausgeschaltet worden, dann hätten die Uniformierten losgeprügelt – unterm Sturmgeläut der Kirchenglocken.
»Wenn wir es heute nicht schaffen«, sagte Michaela, während sie am Kragen ihres Mantels zog, »haben wir unsere Chance für lange, vielleicht für immer vertan!«
Michaela hatte uns mit ihrer Rede in Verlegenheit gebracht. Deshalb löste die Nachricht, Norbert Maria Richter sei gekommen, einen etwas überstürzten Aufbruch aus.
Hätte es mich statt Thea getroffen, davon war ich überzeugt, wäre Michaela wohl kaum zu solch einer Rede inspiriert worden. Thea war ihr schon wieder einen Schritt voraus.
Das
fand Michaela unerträglich! Die große Freundin war daran schuld, daß Michaela glaubte, ihr Gesicht zu verlieren, wenn nicht auch sie Kopf und Kragen riskierte.
Liebe Nicoletta! Ich weiß, wie mißgünstig ich Ihnen erscheinen muß. Vielleicht habe ich immer noch zuwenig Distanz zu der ganzen Sache. Aber in diesem Falle teile ich
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