Neue Leben: Roman (German Edition)
dann ausgerechnet zu Georg, meinem alten Chef, flüchten würde! Ich traf ihn auf dem Markt, bei den Fischbrötchen. Obwohl wir erst vor zwei Monaten bei ihm ausgezogen sind, habe ich Georg kaum wiedererkannt, so anders waren seine Bewegungen. Keine Spur mehr von dem steifen Ritter auf seinem Pferd. Auf seinen langen Beinen bewegt er sich jetzt geradezu geschmeidig. Verschwunden sind auch die Wurzelfalten zwischen den Augenbrauen und auf der Stirn. Zur Begrüßung hätte er mich fast umarmt. Ob ich einen Kaffee oder Tee bei ihm trinken wolle. Ich bejahte, allein schon um nicht gleich wieder in die Redaktion zu müssen.
Die Gartenpforte ist jetzt von Rosen überwuchert. Wie aber staunte ich, als ich beim Betreten der alten Redaktionsstube den gleichen Bildschirm wie bei uns und daneben den Apple erkannte. Sein Drucker ist etwas kleiner als unserer.
Der Baron hat zwei Bücher angeregt und jeweils tausend Exemplare im voraus bezahlt. Das Buch über den Erbprinzen wird das erste sein, dann ein Buch über die Juden in Altenburg und Umgebung und über ihre Vertreibung. Er selbst habe so viele Ideen, sagte Georg, die reichten für Jahre. Obwohl das Barometer, die Uhr und die Briefwaagen, überhaupt alles noch an seinem Platz war, schien ich mich in einem ganz anderen Raum zu befinden. Genauso erging es mir mit dem Garten, der nun grün und voller Blumen ist und an seinen Rändern nahezu undurchdringlich.
Franka umarmte mich, als wäre ich von einer langen Reise zurückgekehrt. Als ich die große Kaffeetafel im Garten sah, an der die drei Jungen mit ihren Großeltern auf uns warteten, gestand mir Georg, heute Geburtstag zu haben.
So verbrachte ich eine heitere Stunde im Kreise seiner Familie.Georg erzählte von einer merkwürdigen Begegnung. Vor ein paar Tagen, es schüttete wie aus Eimern, klingelte es spätabends bei ihnen. Vor ihm stand eine kleine, völlig durchnäßte Frau, der die Haare am Kopf klebten. Sie trat ein und fragte, ob sie bei ihnen übernachten dürfe, ihr Auto sei kaputt und im »Wenzel« gebe es für alles Geld dieser Welt kein Bett mehr. Im selben Augenblick, da er sie fragen wollte, warum sie ausgerechnet bei ihnen klingele, erkannte er sie: Die Zeitungszarin aus Offenburg. Franka und Georg übernachteten selbst auf Luftmatratzen, damit ihr Gast in einem richtigen Bett schlafen konnte. Am nächsten Morgen aber saß die Zeitungszarin bleich und mit Augenringen in der Küche und behauptete, keine Minute geschlafen zu haben, das Bett sei eine Katastrophe.
In Frankas Sachen, die ihr zu groß waren, machte sie sich dann bald auf den Weg. Das Bad duftet angeblich immer noch nach ihr. »Eine richtige Millionärin«, sagte Franka zum Schluß.
Später stieg ich mit Georg den Hang hinauf. Während wir über die Stadt bis hin zu den Pyramiden sahen und die Augen mit den Händen vor der Sonne beschirmten, erzählte ich ihm von meinen Nöten.
»Ihr müßt es machen, wie du es sagst, genau so, sonst habt ihr keine Chance!« pflichtete mir Georg bei. Ich hatte Zurückhaltung und Bedenken, wenn nicht gar Widerspruch erwartet. Nun aber sprach ich wie befreit.
Wäre doch Jörg dabeigewesen! Dort oben auf dem Berg hätte ich ihn überzeugt! Nie zuvor hatte ich mir selbst die Notwendigkeit eines Anzeigenblattes so deutlich vor Augen geführt.
Laut Georg ist es beschlossene Sache, daß die großen Konzerne die Parteizeitungen unter sich aufteilen, allerdings nach Ländern geordnet. Da Altenburg Thüringen zugeschlagen werde, blieben wir die einzigen Grenzgänger und könnten eines nicht allzu fernen Tages von Ronneburg bis Rochlitz, von Meerane bisvor die Tore Leipzigs jeden Haushalt beliefern, wir würden nicht nur die Region zusammenhalten, wir wären auch ein kleines Imperium mit Altenburg als Zentrum.
Wir ergingen uns in Schätzungen über die Auflage – ich rechne mit hundert- bis hundertzwanzigtausend –, und ich begriff, daß der Baron unrecht hat. Denn es ist vollkommen belanglos, ob man reich werden will oder nicht! Ganz gleich, zwischen wie vielen Möglichkeiten man zu wählen glaubt, es gilt immer nur eine Entscheidung zu treffen, nämlich die, die das Überleben sichert. Ja, am Ende gibt es immer nur das Richtige oder das Falsche. Und letztlich ist es viel schöner, selbst etwas zu tun, als über das, was andere getan haben, zu schreiben. 304
Noch auf dem Rückweg gab ich die Stempel für unser SONNTAGSBLATT in Auftrag.
In der Redaktion empfing mich Frau Schorba mit einer Hiobsbotschaft. Das
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